Reden kann er. Und wer per Stream W. A. Mozarts «La clemenza di Tito» bereits gesehen hat, erkennt, dass bei Milo Rau neben den im Zoom-Gespräch geäusserten Regie-Ideen noch Heerscharen von Gedanken eine ausschweifende Party gefeiert haben müssen: Auf der Bühne des Grand Théâtre in Genf zeigt sich ein Monsterkonzert der Fantasien.
Zum ersten Mal inszenierte der Theater- und Filmemacher eine Oper. Genfs umtriebiger Opernintendant Aviel Cahn hatte ihn dazu bringen können. Das ist erstaunlich, zeichnet sich Milo Raus Schaffen doch durch Spontaneität und Improvisation aus. Eigenschaften, die der Oper nicht zugeschrieben werden.
Der 1977 in Bern geborene St. Galler erarbeitete seit 2002 um die 50 Theaterstücke, Filme, Bücher und Aktionen, die weltweit gezeigt und ausgezeichnet wurden. «Ist Milo Rau der kontroverseste Theatermacher unserer Zeit?» fragte die «New York Times» 2018.
Rau will den «Pomp» erträglich machen
Mit den zwei mehrtägigen Justiz-Spektakeln «Die Moskauer Prozesse» und «Die Zürcher Prozesse» begründete er ein eigenes Theaterformat. Viel diskutiert wurde auch der Abend «Five Easy Pieces», in dem Kinder die Verbrechen des Kindermörders Marc Dutroux nachspielten.
Da in der Oper die Musik den Ton angibt, liegt die Frage nahe, ob er Mozart möge. Rau antwortet zurückhaltend: «Mir gefällt bei ihm die Mischung von Einfachheit und Gefühlen, die Liedhaftigkeit und Verspieltheit. Mozart ist Popmusik seiner Zeit.» «La clemenza di Tito» sei allerdings speziell, sei voller Pomp. «Im ‹Titus› gibt es einige wunderbare, kraftvolle Arien, aber auch eine Art Gebrauchsmusik, die man verändern darf und kann: die gesprochenen, vom Clavichord begleiteten Teile etwa, die Rezitative. Und in den chorischen Passagen muss ich dem Pompösen szenisch Gegensteuer geben.»
Rau lobt den jungen russischen Dirigenten Maxim Emelyanychev, der ihn beim Gegensteuergeben unterstützte, der diese Passagen recht schnell und mit barockem Instrumentarium umsetzte. Er selbst will die Inszenierung mit einer reichen Bildwelt erweitern, sodass der «Pomp» erträglich würde.
«Oper ist eine komplizierte und faszinierende Welt»
Als Rau sich zum ersten Mal bei einer Probe zu den Sängern setzte, hiess es: «Milo, Seite 172, Takt 25: In welcher Haltung singe ich das?» Da sagte er: «Das sehen wir dann.» Rau entwickelt normalerweise seine Ideen auf der Bühne, nun galt es, sich gut vorzubereiten und mit fertigen Ideen an jede Probe zu kommen. Und doch versuchte er, Entscheidungen der Sänger zuzulassen.
Bei allen Abstrichen scheint Rau fasziniert gewesen zu sein vom Opernbetrieb, in dem, wie er sagt, Scheitern ausgeschlossen sei: «Der Apparat ist riesig und jede Stunde teuer. Ich habe drei Assistenten, die jede Idee aufschreiben und festklopfen. Es ist eine komplizierte und faszinierende Welt.» Und doch wollte er die Improvisation, die fest zu seiner Theaterkunst gehört, nicht ganz ausser Acht lassen: «Normalerweise gibt es die Improvisation in der Oper nicht. Da ist jeweils die Musik, dann kommt Diktator eins, der Regisseur, dann Diktator zwei, der Dirigent, und dann wird das Stück aufgeführt.» Rau wollte den Sängern mehr Raum als Schauspieler lassen, sah aber auch, dass ‹Titus› vertrackt und redundant sei. «In der Barockoper und bei Wagner hat ein Regisseur mehr Freiheit, die Musik ist offen, flächig und lässt mehr Regie zu.»
Vieles stellt Rau seiner Filmwelt gegenüber, vergleicht die Musik in der Oper mit der Kamera: «Im Film muss ich alles für die Kamera inszenieren, egal, wie realistisch das Gezeigte ist. In der Oper muss ich alles für die Musik inszenieren. Braucht ‹Titus› für drei Sätze zehn Minuten, dann dauert die Handlung nun mal zehn Minuten. Es ist eine zehnminütige Kamerafahrt.»
Erstaunlich, dass Rau im Vorfeld sagte, dass Mozart im Unterschied zu Wagner oder zur Barockoper voller emotionaler Melodramatik sei: «Es gibt Figuren, die miteinander sprechen, handeln, kurz: eine klare Struktur. Mozart denkt dramaturgisch, gibt vor, wie jemand sich bewegen soll. Gegen Mozart zu inszenieren, ist sehr schwierig.» In Tat und Wahrheit hat er es dann doch getan, Mozarts Musik bleibt in der Inszenie-rung seltsam zweitrangig. Dass es zu Umstellungen kam und zur Hinzufügung kongolesi-scher Musikstücke und eines Gesangs von zwei Schamaninnen, ist da nebensächlich. Grundsätzlich vertraut er der Geschichte.
Flüchtlinge als Statisten, Chor mit Hipstern
Allerdings treten zusätzlich 18 Statisten auf die Bühne, die, so Rau, «eine Wirklichkeit abbilden, die bei Mozart keine grosse Rolle spielt.» Im Unterschied zu ihm habe Regisseur Peter Sellars in Salzburg 2017 Choristen in Flüchtlinge verwandelt. «Das ist für mich unwahr. Warum soll man privilegierte Menschen als Flüchtlinge verkleiden? Ich lud Menschen ein, die wirklich fliehen mussten, aber auch Genfer, die sich selbst spielen.» Der Chor hingegen sind Hipster, die dem Kunstevent als Publikum beiwohnen. Beim Wort Kunstevent gilt es die Ohren zu spitzen, will Rau doch die Geburt der bürgerlichen Kunst durch die Aneignung der revolutionären Werte zeigen. Die Grundfrage lautet: «Warum schreibt jemand zwei Jahre nach der Revolution eine Oper über die Nächstenliebe der Elite? Toleranz und die Beherrschung der eigenen Emotionen zeichnen die Eliten aus.»
Ob er die Fragen in seiner Inszenierung beantwortet hat? Die Regie wurde jedenfalls sehr kontrovers diskutiert. Raus Triumph-zug durch die europäische Opernlandschaft ist somit medial trotz Pandemie erfolgreich gestartet.
W.A. Mozart:
La clemenza di Tito
TV: Mezzo Live HD
Sa, 13.3., 13.00 / So, 14.3., 09.30
Fr, 19.3., 21.00 / Mi, 24.3., 06.00
Do, 25.3., 13.00
Stream ab Mi, 17.3., über: www.mezzo.tv
TV: RTS
Sa, 27.3., 20.00 RTS
Do, 22.4., 22.45 RTS 2
Radio Espace 2
Sa, 27.3., 20.00