Um 12 Uhr werde ich nervös. Früher war ich das am 7. Dezember jeweils schon um 8 Uhr, sollte doch um 18 Uhr der Vorhang in der Mailänder Scala hochgehen, im schönsten Opernhaus der Welt. Die Saisoneröffnung am Tag des Stadtheiligen Sant’ Ambrogio ist ein Opernfest, wie es keines auf der Welt gibt. Die Karten kosten 50 bis 2500 Euro, die Welt hört zu, Diven zittern vor Angst. Wären die Sänger Fussballer, hätten sie die Anzahl Eröffnungen auf den Oberarm tätowiert.
Seit 1991 hatte ich keine Saisoneröffnung verpasst
Nervös also eile ich zu «Globus», um einen kleinen Trüffel zu kaufen. Ein Panettone muss auch in den Einkaufskorb, denn am 7. Dezember ist es in Mailand erstmals im Jahr erlaubt, dieses Gebäck zu essen: Im Opernfoyer gehört Panettone jeweils dazu wie der Franciacorta, der italienische «Champagner». An der Kasse im «Globus» merke ich, dass ich mit irgendwelchen Ersatzhandlungen gegen etwas ankämpfe, das wohl nur mit einem Heulkrampf zu lösen wäre. Kann dieser Abend nur mit Alkohol weggespült werden?
Seit 1991 hatte ich keine Saisoneröffnung verpasst, war 1992 zwei Nächte lang vor der Oper gestanden, um eine Stehplatzkarte für «Don Carlo» zu erhalten. Und jetzt stehe ich in meiner Küche, suche RAI 1, wo um 16.45 Uhr die Übertragung von «A riveder le stelle» beginnen soll. 29 Mal war ich am 7. Dezember aus der Scala auf die Piazza getreten und hatte oft die Sterne gesehen. Drinnen hatten sie gesungen. 1999 war ich nach Riccardo Mutis «Fidelio»-Dirigat so berührt, dass ich nach dem Freiheitsjubel mit einem Freund, ohne ein Wort zu sagen, 20 Minuten lang rund um die Scala durch die Nacht irrte. Die Sterne wiedersehen – in einer TV-Operngala am Spätnachmittag, in Pantoffeln?!
Ich schenke mir einen Campari ein. Immerhin etwas Mailand im Glas. Die zwei Moderatoren plappern für ein Millionenpublikum. «Als diese Musik geschrieben wurde, war das Pop», sagt die eine. In meiner Küche macht es «plopp», der Champagner ist offen. Eine «arte totale» verspricht man uns, ein von Davide Livermore inszeniertes Gesamtkunstwerk: Ballett, Musik und Prosa sollen sich vereinen.
Einst der Jubel – heute bleibt es still
Das schauerliche «Rigoletto»-Vorspiel erklingt, ehe Luca Salsi wütend «Cortigiani, vil razza dannata» singt: «Höflinge, verdammte, niederträchtige Sippe!» Das klingt sehr forciert, sehr laut, und mir schwant Böses. Kurz darauf reisst auch noch Vittorio Grigolo den Mund auf. Wird am Ende gar Andrea Bocelli auf der Bühne stehen? Zum Glück taucht Ildar Abdrazakov ab in die dunkelschwärmerische Arie des Philipp aus «Don Carlo»: «Ella giammai m’amò» – «Sie hat mich nie geliebt» …
Schon leuchten alle roten Erinnerungslampen auf: Am 7. Dezember 1992 war es, als ein «Don Carlo»-Debakel Mailand erschütterte: «Pavarotti zwischen den Piranhas» titelten die Zeitungen, ausgebuht der Superstar, die Sopranistin verspottet. Fels in der Brandung damals war Samuel Ramey als König Philipp, und sein «Ella giammai m’amò». Nachdem Dirigent Riccardo Muti zu Beginn des 3. Aktes ausgebuht worden war, trat der US-Amerikaner auf die Bühne und sang die Wunderarie so, wie sie in der Scala bis heute nicht wieder gehört wurde. Der Jubel war tumultartig.
Heute bleibt es still. Um die Leere zu vertuschen, rast man von einem Stück ins nächste. Der Schmerz von Philipp ist noch nicht verhallt, da drückt Verdi via Marchese di Posa schon auf die Tränendrüse: Ludovic Tézier singt tapfer – und wird erschossen. Die Stimmung steigt. Ab jetzt wird das Glas geleert, wenn einer den Operntod stirbt. Analog zum Trinkspiel beim Eurovision Song Contest: Kommt es da jeweils zu einer Modulation, wird das Glas gekippt. Es besänftigt den Horror Vacui.
Ich will gerade die Pasta vorbereiten, da zaubert Juan Diego Flórez «Una furtiva lagrima» auf die Bühne. Ach, Flórez … Im Sommer 2007 entstand nach der Arie «Ah, mes amis!» ein kaum enden wollender Jubel – und Flórez wiederholte die Orgie der hohen C. Unerhört! Hatte je ein einzelner Sänger das von Dirigent Arturo Toscanini aufgestellte Zugabe-Verbot gebrochen? Die Callas? Die Pressefrau telefonierte nervös herum. Dann die Durchsage: «Die letzte Zugabe hat Fedor Schaljapin im Jahr 1933 gegeben.»
Ohne Publikum ist alles nichts
Juan Diego Flórez sagte mir ein Jahr später im Interview: «An der Scala ist alles immer etwas anders, das Parkett applaudiert manchmal gar nicht; diese Abonnenten sind halt etwas snobistisch und setzen hohe Ansprüche. Bei dieser ‹Fille du Régiment›-Premiere schielte ich ab und zu ins Parkett und sah, dass da einige gar nicht zur Bühne schauten. Typisch Scala: mal so, mal so.» Als er es erzählte, musste er heftig lachen.
Die Mailänder mögen Snobs sein, aber sie sind da: Das spürt jeder Sänger. Oper ohne Publikum, das wird an diesem Abend schrecklich klar, ist überflüssig. Macht Opernfilme wie Ingmar Bergman oder Joseph Losey, aber spielt nicht nur für eine Handvoll Kritiker! Ohne Publikum ist alles nichts.
Es bleibt die Nelke von einst im Programmheft
Die Übertragung plätschert dahin, es geht bergauf (Sonya Yoncheva), bergab (Roberto Alagna) – bis schliesslich der Höhepunkt folgt: Marina Rebeka als Madama Butterfly. Danach ists wieder still.
Meine 30. Saisoneröffnung ist aus, ich stehe nicht im schwarzen Anzug beim Apéro in einer Prachtshalle eines Palazzos, sondern erledige im Pulli Geschirrabwasch. Was solls. 2012 blieb ich nach einem fünfstündigen «Lohengrin» und dem Galadinner um 2 Uhr nachts zu zweit im Lift des Hotels Star stecken. Ich war bei aller Angst, da bis zum Morgen nicht mehr rauszukommen, sehr glücklich. In der Hand hielt ich eine von 2500 Nelken, die es damals beim Applaus auf die Interpreten herabgeregnet hatte. Sie liegt noch heute im Programmheft.
TV
Ein besonderer Abend an der Mailänder Scala: A riveder le stelle
90-minütige Fernsehfassung
So, 20.12., 16.15 Arte