Kaum ist die Szene fertig gespielt, eilt Regisseur Carlos Wagner hurtig auf die Bühne, passiert die 17 Meter hoch aufragende und vier Tonnen schwere, schräg gestellte Rosette und rennt die Treppen des Baugerüsts hoch. Jetzt sieht man ihn weit oben, wie er gestikuliert, umringt von der Erst- wie der Zweitbesetzung von Esmeralda und Quasimodo, die hier die unbekannte Oper «Notre Dame» von Franz Schmidt zum Leben erwecken sollen.
Die Kathedrale ist die wahre Protagonistin
Als die Rosette aufgerichtet war, machte Carlos Wagner ein Foto und verschickte es an seine Freunde. «Ah, Notre-Dame», lautete die Reaktion. Genau das ist gemeint. 1831 hat Victor Hugo mit dem Roman «Notre-Dame de Paris» («Der Glöckner von Notre-Dame») einen Bestseller gelandet. Seine Popularität im Film und auf der Bühne geniesst das Werk seitdem nicht nur wegen der pittoresken Szenerie und seinen Protagonisten, der schönen Esmeralda und dem buckligen Quasimodo, sondern auch wegen seiner durchaus modernen Ansätze.
Da sind zwei Aussenseiter, die unter die Räder einer rachsüchtigen Gesellschaft geraten. Und da ist ein Kirchenmann, der im Kampf gegen seine eigenen sexuellen Gelüste seine Macht missbraucht und ein Leben opfert.
Die Bilder der beim Brand vor zwei Jahren beinahe zerstörten Pariser Kirche Notre-Dame haben Rifail Ajdarpasic inspiriert, der die Bühne entworfen hat. Nicht zum ersten Mal bespielt er den Klosterhof in St. Gallen, und er weiss: Die wahre Protagonistin singt nicht, sondern strebt wenige Meter hinter der Bühne gen Himmel. Es ist die Fassade der barocken Kathedrale mit ihren beiden Türmen. «Man muss sie als Partnerin gewinnen», sagt er. «Man darf sie nicht verdrängen wollen.»
Schon die Auswahl der Stücke nimmt auf den Ort der St. Galler Festspiele Rücksicht, denn sie handeln von der Auseinandersetzung des Menschen mit Kirche und Macht. St. Gallen hat sich auf Opernraritäten spezialisiert, seit 2006 kann das Publikum hier selten bis nie gespielte Werke kennenlernen. Auf Franz Schmidts «Notre Dame» trifft dies in besonderem Masse zu, weil nicht nur die 1914 uraufgeführte Oper umfassend vergessen worden ist – mit Ausnahme jenes Intermezzos, das man in den Wunschkonzerten immer wieder hören kann.
Vergessen worden ist auch ihr Komponist, der von 1874 bis 1939 lebte. Das hat musikalische, musikhistorische und politische Gründe, wie der Dirigent Michael Balke erklärt. Franz Schmidt hatte im Wien seiner Zeit starke Konkurrenz von Gustav Mahler, Richard Strauss, Erich Korngold, Alexander von Zemlinsky und Franz Schreker. Eine spätromantisch geprägte Tonsprache galt bald als unmodern, die Zukunft verkörperten die Zeitgenossen Arnold Schönberg und Alban Berg. Als die Nazis kamen, emigrierten die meisten dieser Komponisten, Franz Schmidt blieb. Schlimmer noch: Auf dem Totenbett begann er die Komposition einer Kantate zum Lob «Grossdeutschlands». Das hat seinem Nachleben nachhaltig geschadet, auch wenn er zur selben Zeit zwei Werke für den jüdischen Pianisten Paul Wittgenstein fertiggestellt hatte.
Die Wiederentdeckung eines Vergessenen
Doch es gibt Bemühungen um die Wiederentdeckung von Schmidts Werken, St. Gallen reiht sich in sie ein. «Das lohnt sich sehr», sagt Michael Balke. «Man findet im starken musikalischen Fluss von ‹Notre Dame› Anklänge an Brahms und Bach, dann wieder weist Franz Schmidt voraus auf Richard Strauss und geht an die Grenzen der Tonalität.» Sowohl seinen Musikern wie den Sängern bereite es grosse Freude, diese schwierige, aber lohnende Aufgabe zu meistern.
Dass die Stimmung gut ist, spürt man auch im weiteren Verlauf der Probe, wenn der Chor zum ersten Mal eine Szene in der Kirche spielt. Auch jene Tänzer sind jetzt dabei, mit denen Carlos Wagner Elemente der Handlung illustrieren wird. Er hat auf diesem Platz schon einmal Musik, Gesang und Tanz eindrücklich miteinander verknüpft: 2012 in Hector Berlioz’ «La damnation de Faust» mit Mephistos agiler Truppe von Teufeln.
Damals hat sich der Lichtdesigner Guido Petzold nach dem Einrichten der Lichtregie zusammen mit Carlos Wagner die Probe angeschaut. «Wir waren ganz erstaunt, was passiert ist mit uns. Wir hatten eine Gänsehaut.» Das ist auch jetzt sein Ziel: Dass die Menschen vergessen, wo sie sind, und eintauchen in die mittelalterliche Welt von «Notre Dame». «Am liebsten würde ich wollen, dass ihnen die Luft wegbleibt», sagt er. Wobei dieses Wecken von Gefühlen und Konzentration mittels Licht eine ziemlich knifflige Aufgabe ist, an der Petzold schon seit einem Jahr arbeitet. «Lange bevor die Proben begannen, standen wir in engem Austausch miteinander. Rifail Ajdarpasic hat mir seine 3D-Entwürfe der Bühne geschickt, und Carlos Wagner hat seine Regie-Ideen präsentiert. Das ist die Basis für mein Konzept.»
Langsames Übergleiten in die Nacht
Wenn die Vorstellung um 21 Uhr beginnt, ist die Sonne noch nicht untergegangen, am Ende aber ist es dunkel. Auf das langsame Hinübergleiten in die Nacht kann sich die Lichtregie einrichten – immer in der Hoffnung, dem einen oder andern Zuschauer Gänsehaut-Momente zu bescheren.
Notre Dame
Premiere: Fr, 25.6., 21.00
Klosterhof St. Gallen