Das Wettrennen um die Erstbesteigung des Matterhorns war 2018 in St. Gallen Sujet eines neuen Musicals von Albert Hammond. Jetzt schafft es die nicht minder dramatische erste Bezwingung der Eigernordwand in Biel auf die Opernbühne. Der 57-jährige Schweizer Komponist Fabian Müller liess sich schon einmal von diesem FastViertausender im Berner Oberland inspirieren: 2004 schrieb er das Orchesterstück «Eiger», das beim Klassik-Festival in Interlaken uraufgeführt wurde. Darin türmen sich die Klänge, die Bässe erzählen von der Gefährlichkeit dieses Fels- und Eisriesen, Flötenglissandi zucken wie kleine Steinschläge herunter, und Fanfaren schildern die Gefühle des Triumphs über den Berg.
Es war illustrative Musik mit virtuos eingesetzten Orchesterfarben mit harmonischen Schichtungen, die einiges von den zwiespältigen Gefühlen verraten, die ein solcher Monolith zu wecken vermag. Tatsächlich hat Fabian Müller schon damals an die Möglichkeiten einer Oper gedacht, wie er erzählt. Aber erst mit dem «inspirierenden» Libretto von Tim Krohn kam das Projekt richtig ins Rollen: «Musikalische Motive aus der sinfonischen Skizze ‹Eiger› waren die Ausgangslage, und daraus habe ich die Musik zur Oper frei weiterentwickelt.»
Übermacht der Natur in dramatischer Musik
Und was erwartet nun das Publikum? Eher ein dramatisches Bergabenteuer oder ein Blick in die Innenwelten von kleinen Menschen angesichts der Grösse und unerbittlichen Gleichgültigkeit der Natur? «Es ist über weite Strecken eine dramatische Musik», sagt Müller, «mit der ich versucht habe, die Übermacht der Natur zum Ausdruck zu bringen, aber auch die grosse Bandbreite vom anfänglichen Übermut bis zum Scheitern und verzweifelten Überlebenskampf. Auch die Ambivalenz der Protagonisten mit ihren inneren und äusseren Konflikten klingt unterschwellig ständig mit.»
Es war der 24. Juli 1938. Vier Bergsteiger aus Deutschland und Österreich hatten es nach etlichen tödlich verlaufenen Versuchen von anderen geschafft, die Eigernordwand zu bezwingen: «Halb erfroren, zerschlagen und zerschunden erreichten wir endlich die höchste Spitze», beschrieb Fritz Kasparek, einer der vier Erstbesteiger, den grossen Moment. Der Sieg über die Wand wurde sofort vereinnahmt vom NS-Regime, dem der Triumph der «Herrenrasse» kurz nach dem «Anschluss» Österreichs prächtig in die Propaganda passte. Es gab eine Privataudienz beim Führer, und während die beiden Deutschen eher apolitische Abenteurer waren, liessen sich die beiden Österreicher, die der braunen Ideologie schon seit Jahren verbunden waren, sehr gerne dafür einspannen.
«Jedes Sprechen ist ein Keuchen»
Nicht auf diese erfolgreichen Berg-Helden aber fokussieren Tim Krohn und Fabian Müller, sondern auf die zwei Jahre zuvor tragisch gescheiterten Seilschaften um Toni Kurz. Alle vier starben beim Versuch der Bezwingung dieser Wand, drei bei einem Lawinenniedergang, Toni Kurz nach einer einsamen Nacht in der Wand hängend praktisch in Reichweite seiner Retter. Was ihn berührt habe an dieser Geschichte, sei «die fast antike Dimension der Tragödie», sagt Autor Tim Krohn. «Zwei junge Wilde, rührende Burschen, treffen am Berg auf zwei Nazis der ersten Stunde. Im Tal hätten sie einander die Köpfe eingeschlagen. Am Berg gelten andere Gesetze.» Oder eben nicht: «Erst glauben sie, sie hätten gemeinsam die besten Chancen. Dann verletzt sich einer der Nazis, und die guten Jungs müssen sich entscheiden, ob sie allein weitergehen und die Nazis in den sicheren Tod entlassen.»
Die übermächtige Natur habe etwas Mephistophelisches, sagt Krohn: «Im Kampf – oder besser Spiel – dem kleinen, schmächtigen Menschen gegenüber stellt sie sich in der ganzen überbordenden Wildheit und Schönheit dar, welche die Oper als Genre auszeichnet.» Welche Sprache wählt man dafür? «Am Berg fehlt für lange Sentenzen die Luft. Jedes Sprechen ist auch ein Keuchen, ausser nachts im Biwak. Gleichzeitig machen die Gedanken Höhenflüge. Es ist eine Extremsituation, und bei aller Überforderung schwingt auch immer Euphorie mit. Euphorie, Verzweiflung und beinharter Pragmatismus. Es ist eine wunderbare, krude Mischung.»
Und wo liegen die grössten Herausforderungen bei der Umsetzung dieser Oper? Die Musik von Fabian Müller repräsentiere den Berg und die Natur, sagt Dirigent Kaspar Zehnder: «Der Mensch wird von der Musik fast an den Rand gedrängt. Es gibt keine Gassenhauer oder Bergsteigerliedchen, sondern gewaltige Klangballungen. Wir müssen stark darauf achten, dass wir nicht einfach ständig laut sind, aber dabei auch niemals an Intensität verlieren.»
Ein sinfonisches Gedicht mit Gesang
Die Stärke der Oper liegt im Ausmalen der Konflikte zwischen den Figuren. Vieles sei tatsächlich sinfonisch gedacht, sagt Zehnder: «Es ist eine Art sinfonisches Gedicht mit Gesang geworden. Es gibt zum Beispiel keine Ensemble-Szenen, und meistens folgen einem gesungenen Satz keine Repliken, sondern instrumentale Passagen. Die Musik ist rhapsodisch oder episch, bewegt sich in tektonischen Klangschichtungen, die einen an die Klangwelten von Olivier Messiaen oder den späten Strawinsky erinnern.» Und die Frauen sind untervertreten: «Es gibt zwar die weibliche Stimme eines Berggeists, und die Streicher sind bis zu vierfach geteilt, was zu sehr schönen Obertonfarben führt. Aber insgesamt beherrschen die tiefen Stimmen das Geschehen.»
Über 70 Bergsteiger sind bisher an der 1800 Meter hohen «Mordwand» ums Leben gekommen. Die Erstbesteiger brauchten 1938 drei Tage. Heute liegt der Rekord von Ueli Steck bei 2 Stunden 22 Minuten.
Eiger
Premiere: Fr, 17.12., 19.30
Theater Biel – www.tobs.ch