Eine Frau auf dem Scheiterhaufen, ein verwechseltes Kind, das verbrannt wurde, zwei Brüder als Todfeinde: Das Libretto von Verdis «Trovatore» gilt als ziemlich konstruierte Schauer-Story. Aber musikalisch ist die Oper aus einem Guss, entwickelt einen unwiderstehlichen Sog und zeigt Verdi auf dem Höhepunkt seiner Kreativität. Wenn ein Chefdirigent dieses dramatische Stück als seine Visitenkarte beim Antritt einer wichtigen neuen Stelle auswählt, dann sagt das auch einiges über ihn selber aus.
Ein geborener Operndirigent
Der 57-jährige Mailänder Gianandrea Noseda ist ein Musiker der grossen Geste, das zeigte sich schon, als er im Februar im leeren Opernhaus-Saal für die Kameras das «Deutsche Requiem» von Brahms leitete: grosszügig die musikalischen Landschaften, breit die Tempi, gewichtig die Zäsuren und Akzente. «Ich nehme die Partituren ernst», sagt Noseda im Gespräch. «Ich frage nicht, was davon könnte zu viel sein, sondern ich versuche, möglichst alles so deutlich wie möglich auszuformen. Ein Akzent soll explodieren, und ein Pianissimo soll dem Publikum einen Schauer über den Rücken jagen und nicht einfach ein bisschen leise sein.»
Noseda zaubert aus dem Orchester nicht nur Klang-Orgien. Weniger als der Rausch des Sinfonischen liegt ihm die Dramatik jeder Musik am Herzen. Auch wenn der Puls manchmal langsamer ist als bei den Kollegen, verliert seine Musik nie ihren Schwung, ihre Geste und ihre Richtung. Das macht Noseda zum geborenen Operndirigenten, denn auch die grosse Kunst des Begleitens versteht er sehr gut: Er ist kein Pult-Diktator, für den nur seine Sichtweise gilt. Wenn ein Tenor eigene Ideen einbringt, ist er der Erste, der reaktionsschnell mitzieht, und wenn eine Sopranistin ihre Höhenflüge auskostet, trägt er sie auf Händen.
Zwei Operngötter in der ersten Saison
International am meisten aufgefallen ist Noseda bisher allerdings nicht als Operndirigent, sondern als Chef bei renommierten Sinfonieorchestern wie aktuell beim London Symphony Orchestra. Aber seine Leidenschaft für die Oper ist nie erloschen seit den Tagen, als ihn Valery Gergiev als ersten Ausländer ins St. Petersburger Mariinski-Theater engagierte. Schon früh dirigierte er auch an der New Yorker Metropolitan Opera, bald in Wien, Paris, London und an der Mailänder Scala. Am Teatro Regio von Turin vor allem hat er von 2007 bis 2018 das Haus und das italienische Repertoire geprägt.
Über 60 CDs hat Noseda aufgenommen und sich dabei grosse Verdienste erworben um das sinfonische Repertoire aus Italien im 19. und 20. Jahrhundert. Komponisten wie Alfredo Casella, Goffredo Petrassi oder Amilcare Ponchielli hat er einer breiteren Schicht von Konzertbesuchern erst wieder ins Bewusstsein gebracht. Eine besonders enge musikalische Beziehung verbindet ihn mit der Starsopranistin Anna Netrebko, mit der er zahlreiche Konzerte gab und auch CDs einspielte.
Neben dem «Trovatore» dirigiert Gianandrea Noseda am Opernhaus Zürich in diesen Tagen auch Verdis letzte Oper «Falstaff» als Wiederaufnahme der Inszenierung von Sven-Eric Bechtolf. Als Dirigent stellt er auch sein sinfonisches Repertoire vor, wenn er mit Daniil Trifonov das erste Klavierkonzert von Brahms und Dvoráks Sinfonie Nr. 8 leitet. Damit präsentiert er sich nicht nur in Zürich, sondern auch in Bern und Basel als Konzert-Dirigent. Und im Frühling wartet Wagner: Ein neuer «Ring des Nibelungen» startet noch in dieser Saison, den der Hausherr Andreas Homoki inszeniert. Dazu kommt eine Wiederaufnahme des «Tristan». Verdi und Wagner, zwei Operngötter in der ersten Saison: Kein Zweifel, da kommt einer nach Zürich, der gross denkt und etwas zeigen will.
Am Pult wird nicht gesäuselt
Jetzt liegt die Konzentration aber erst einmal auf Verdis «Trovatore», einer Oper, deren Intensität manchmal fast nicht auszuhalten sei, wie Gianandrea Noseda sagt: «Diese Oper brennt dauernd, es ist ein Dreiklang aus Dunkelheit, Feuer und Blut.» Auch die Solisten sind extrem gefordert. Enrico Caruso meinte einst scherzhaft, den «Trovatore» zu besetzen sei einfach: Man brauche bloss die vier besten Sänger der Welt. Bei Sopran und Tenor kann das Opernhaus Zürich denn auch zwei absolute Opern-Superstars präsentieren: Die lettische Sopranistin Marina Rebeka debütiert in der anspruchsvollen Rolle der Leonora. Viel Tenor-Routine bringt Piotr Beczala als Manrico mit, den man in Zürich schon bestens kennt.
Die prächtige Bariton-Rolle des zwiespältigen Grafen Luna singt der hawaiianische Bariton Quinn Kelsey, der hier als Rigoletto schon für Verdi-Höhenflüge sorgte. Die Stimme der Zigeunerin Azucena war am schwierigsten zu finden. Die polnische Mezzosopranistin Agnieszka Rehlis brillierte in der Rolle der heimlichen tragischen Heldin dieser turbulenten Oper bereits in Sevilla. Sie verlangt dunkel glühendes Feuer, satte Tiefe, unheimliche Klangfarben und viel dramatische Durchschlagskraft. Denn wie gesagt: Am Pult steht keiner, der herumsäuselt, wenn bei Verdi so richtig die Post abgeht!
CDs
Schostakowitsch
Sinfonien Nr. 9 & 10
Mit dem LSO
(LSO 2021)
Chopin
Klavierkonzert Nr. 2
Mit Seong-Jin Cho und dem LSO
(Deutsche Grammophon 2021)
Oper
Verdi: Il Trovatore
Regie: Adele Thomas
Bis Fr, 26.11., Opernhaus Zürich
Konzerte
Brahms: 1. Klavierkonzert / Dvorák: 8. Sinfonie
Philharmonia Zürich mit Daniil Trifonov (Klavier)
Sa, 30.10., 19.00 Opernhaus Zürich
So, 31.10., 19.30 Stadtcasino Basel
Mo, 1.11., 19.30 Casino Bern