«Heute müsste man mich rückblickend wohl als Opern-Nerd bezeichnen», erinnert sich Elisabeth Sobotka, die seit 2015 Intendantin der Bregenzer Festspiele ist. «Jedenfalls bin ich mit 17 beim Anschauen des Films ‹Fitzcarraldo› von Werner Herzog sofort bei dieser Eingangsszene hängen geblieben, die das Finale von Giuseppe Verdis Oper ‹Ernani› zeigt. Ich war tief beeindruckt von seiner musikalischen Kraft, obwohl die Szene total übertrieben gespielt wird.»
So entflammte die Liebe zu diesem Frühwerk des italienischen Opernmeisters, das mit seinen extremen Kontrasten und mit seinen holzschnittartigen, vermeintlich gestrigen Charakteren die Opernhäuser mehr abschreckt als anzieht. Jetzt allerdings hat Elisabeth Sobotka in der Holländerin Lotte de Beer eine Regisseurin gefunden, auf deren Wunschliste «Ernani» schon seit längerem weit oben steht.
Die Unvollkommenheit des Lebens
Schon einmal hat Elisabeth Sobotka Lotte de Beers Energie, Begeisterungsfähigkeit und künstlerische Fantasie für die Bregenzer Festspiele genutzt: 2017 war es, da hat de Beer zusammen mit dem Bühnen- und Kostümbildner Christoph Hetzer im Festspielhaus Gioachino Rossinis Oper «Moses in Ägypten» inszeniert und den Abend mit Hilfe virtuos eingefügter Live-Puppenspiel-Szenen zum eindringlichen Abenteuer gemacht. Gott spielt mit den Menschen, das war damals die Botschaft.
Und wie ist es diesmal? Welche Idee bringt Lotte de Beer mit, was hat sie vor mit «Ernani»? «Ich liebe unvollkommene Geschichten», antwortet sie. «Sie widerspiegeln die Unvollkommenheit des Lebens. Und sie brauchen die Arbeit der Regisseurin.» In der Tat: Das im 16. Jahrhundert angesiedelte Drama um Elvira, die von gleich drei Männern begehrt wird, hat auf den ersten Blick wenig mit unserer Zeit und Welt zu tun. Um Elvira buhlen der verstossene Adlige Ernani, der spanische König Don Carlo und ihr eigener Onkel Silva, der sie partout heiraten will.
«Was sich da abspielt, sehe ich überall»
Die Oper ist aber nur auf den ersten Blick von gestern. «Was sich da abspielt, sehe ich überall: in der grossen Politik ebenso wie auf dem Kinderspielplatz meiner fünfjährigen Tochter», sagt Lotte de Beer. Was sie damit meint: Ernani hat Leidenschaft, Don Carlo hat Macht, und Silva hat die Position, um Elvira auf seine Seite zu ziehen.
Sie kämpfen – doch worum? Um die Liebe dieser Frau am allerwenigsten. Viel stärker spielen verletzte Ehre und alte Rivalitäten eine Rolle, was sie präzis das Gegenteil von dem erreichen lässt, was sie erreichen wollen. «Da reden Menschen die ganze Zeit über Ehre, Liebe, Freundschaft und Gastfreundschaft, also über hohe, schöne Ideale – und drohen im nächsten Atemzug mit Mord oder Suizid, mit Duellen oder gar Krieg.» Diese Geschichte aus ferner Vergangenheit passt also ganz gut in unsere von Idealen ebenso wie von einem zerstörerischen Krieg erfüllte Zeit.
In der Tragödie steckt die Komödie
Trotz der bitterbösen Handlung widersteht de Beer der Versuchung, in «Ernani» nur die Tragödie zu sehen und in den Protagonisten nur Scheiternde. «Es ist schön und wichtig, dass wir Menschen immer wieder versuchen, unseren Idealen gerecht zu werden – auch wenn wir dabei immer wieder scheitern», legt sie ihre eigene, bei allem Realismus doch optimistische Lebensauffassung dar. Und fügt mit Blick auf «Ernani» hinzu: «Im Übrigen steckt in der Tragödie immer auch die Komödie.»
Deshalb verstärkt sie in der Regie und bei der Bühnengestaltung das Grelle, Groteske, wie es schon von Verdi absichtsvoll überzeichnet wurde. Sie lässt eine achtköpfige Fechttruppe kämpfen und reichlich Blut fliessen, während Bühnenbildner Christof Hetzer aus Papier mal in ironischer Absicht ein Podest errichtet für den Helden Ernani, der zuletzt in seinem eigenen Ehrenkodex gefangen bleibt, und mal Säulen aus Pappe, mit denen die Menschen zeigen, wie hehr ihre Ideale doch sind. Doch Papier und Pappe sind vergänglich – zerbrechlich wie die Welt der Menschen.
Ein eigenes Theater für Lotte de Beer
Das hat, zusammen mit Verdis vielschichtiger, rau aufbegehrender und dunkel-melancholischer Musik, etwas Anrührendes. Sobotka jedenfalls hat beim ersten Durchlauf in der Schlussszene mit den Tränen gekämpft, «obwohl dieser ‹Ernani› so ganz anders ist, als ich ihn mir vorgestellt habe». In Herzogs «Fitzcarraldo» träumt ein Mann davon, mitten im Dschungel des Amazonas ein Opernhaus zu bauen.
Mit der «Volksoper» hat seit letztem Jahr auch de Beer ihr eigenes Theater. Es steht allerdings nicht im Dschungel, sondern in Wien und ist auch weniger ein Opern- als ein Operettenhaus. Es hat in der ersten Saison der neuen Intendantin bei den Abonnements zugelegt und zudem auch ein junges Publikum gewinnen können.
Etwa mit Offenbachs «Orpheus in der Unterwelt» in der Inszenierung der britischen Comedytruppe Spymonkey, mit der Uraufführung einer Operette von Moritz Eggert über Verschwörungstheorien oder mit Otto Nicolais Oper «Die lustigen Weiber von Windsor» in der humoristischfeministischen Sicht von Nina Spijkers. Und de Beer hat ihren wichtigsten Glaubenssatz bestätigt gefunden: «Die Menschen sind offen für Neues, wenn man es ihnen einladend präsentiert.»
Ernani
Mi, 19.7./So, 23.7./Mo, 31.7.
Festspielhaus Bregenz (A)
Mehr als «Madame Butterfly»
Im Zentrum der Bregenzer Festspiele steht auf der Seebühne zum zweiten Mal Giacomo Puccinis «Madame Butterfly» in der Inszenierung von Andreas Homoki. Darum herum breitet sich ein Kranz origineller Projekte, der von Verdis «Ernani» über zwei zeitgenössische Produktionen bis zu Kleists Theaterstück «Der zerbrochene Krug» und der Oper «Werther» von Jules Massenet reicht. Dazu kommen Orchesterkonzerte – und Franz Schuberts Liederzyklus «Die schöne Müllerin» in einer szenischen Fassung mit dem Puppenspieler Nikolaus Habjan und der Musicbanda Franui.
Bregenzer Festspiele
Mi, 19.7.–So, 20.8.
bregenzerfestspiele.com