Im Prinzip ist der Fall klar, auch für den Zürcher Opernhausdirektor und Regisseur Andreas Homoki: «Eine Inszenierung ist eine erarbeitete Struktur – sie wird dokumentiert und ist reproduzierbar.» Doch sogleich kommt ein entscheidender Einwand, sieht Homoki in einer Inszenierung doch etwas Lebendiges. So sagt er entschieden: «Wer Inszenierungen von toten Regisseuren auf die Bühne bringt, überspannt den Bogen.» Doch genau das wird in diesem Jahr an den grossen, Ton angebenden Bühnen gemacht.
Salzburg wagte den ersten Schritt
Die Osterfestspiele in Salzburg, eines der glanzvollsten Festivals der Welt, rekonstruierte im April zum 50-Jahre-Jubiläum die «Walküre»-Produktion von 1967. Doch in Salzburg war man so klug, die damalige Regie von Herbert von Karajan (1908–1989) durch die 45-jährige Vera Nemirova aufzufrischen und bloss die grandiosen Bühnenbilder des verstorbenen Günther Schneider-Siemssen zu kopieren. War bei Karajan damals offenbar alles in mystisches Dunkel getaucht, wurde nun das Spiel dank moderner Kostüme, neuem Licht und einer klugen Personenführung lebendig. Orchester wie Sänger konnten sich entfalten wie kaum je zuvor. Nach fünf Stunden taumelte der Zuschauer berauscht aus dem Festspielhaus hinaus.
Lyon und Mailand reiten auf Retro-Welle mit
Die Sehnsucht nach der Vergangenheit stillte auch die Opéra Lyon, sie zeigte im März das «Festival Memoires». Zu sehen waren drei berühmte Inszenierungen toter Regisseure aus den Jahren 1986, 1993 und 2002: von Ruth Berghaus, Heiner Müller und Klaus Michael Grüber. Hier ging es um die möglichst exakte Rekonstruktion; das Publikum sollte an der nahen Vergangenheit nochmals so objektiv wie möglich teilhaben können.
Schon im Juni zieht die Mailänder Scala nach und führt Giorgio Strehlers (1921–1997) legendäre Produktion von Mozarts «Entführung aus dem Serail» aus dem Jahr 1965 auf. Hier wird auch auf grossartiges Altes zurückgegriffen, da das italienische Publikum und die Kritik dem Neuen skeptisch gegenüberstehen. Als Anna Netrebko im März in Mailand in «La Traviata» sang, tat sie das bezeichnenderweise nicht in der jüngsten Inszenierung von Dmitri Tcherniakov von 2013, sondern in jener prunkvollen aus dem Jahre 1990 von Liliana Cavani. Ähnliches ist in Verona zu beobachten. In der Arena wird heuer erneut die angebliche Original-«Aïda» von 1913 gezeigt. Allerdings wurde die sehr karge Originalausstattung mit üppigem Dekor überzogen.
Zürich macht nicht «auf früher»
Die kühne Ankündigung «Rekonstruktion» kann schnell zum Deckmantel für Altbackenheit werden. Oder zum reinen Geschäft wie die grassierenden Remakes der Filmindustrie «King Kong» oder «Ben Hur». In Zeiten, in denen die Kultursubventionen infrage gestellt werden, in denen das Verständnis für Kunst als Risiko schwindet, zeigt die Retro-Welle ihre gefährliche Seite, wie der Zürcher Opernintendant Andreas Homoki erklärt. «Da kommen die Politiker und sagen: ‹Wir brauchen keine neuen Inszenierungen mehr, nehmen wir doch eine schöne alte.›»
In Zürich wird man unter seiner Direktion keine Rekonstruktionen zu sehen bekommen. «Theater haben die Aufgabe, Stücke, die sowieso schon historisch sind, gegenwärtig zu interpretieren», so Homokis Meinung. Dies hiesse nicht, dass man sie auf den Kopf stellen müsse. «Aber man kann ‹Figaros Hochzeit› nicht historisch-gegenwärtig reproduzieren», ist er überzeugt. Und «Don Giovanni» im Prager Uraufführungstheater in der Originalinszenierung? «Das ist der Endpunkt dieser Rekonstruktionen. Zum Totlachen.» Der Trend belege, dass die Stücke mitsamt der Opernszene älter werden: «Alle erwarten dauernd etwas Neues. Offenbar ist einigen das Neue nicht mehr gut genug. So heisst es jetzt: Machen wir doch mal richtig toll ‹auf früher›.» Die Aufgabe der Opernhäuser sei es aber, sich mit einem Ensemble, mit einem Werk und einer Aufführung auseinanderzusetzen – und nicht, sich auf ausgetretene Pfade zu begeben. «Das Werk ist der Chef, die Inszenierung ist bloss eine Interpretation. Wenn nun aber jemand sagt, die eine Regie sei gültiger als die andere, dann erhält eine Regie Werkcharakter: ‹So und nicht anders.› Aber das Werk bleibt das Werk, die Inszenierung ist das, was wir daraus machen.»
Grosser Verdruss über das Neue
Was keiner der Intendanten sagt, aber jeder denkt: Die Rekonstruktion legendärer Inszenierungen ist eine Reaktion auf den im Opernpublikum weitverbreiteten Verdruss über das Neue. Wenn ein junger Regisseur ein berühmtes Werk inszeniert, muss er es heute gegen den Strich bürsten, will er in der Szene und bei der Kritik auffallen. Inszeniert ein Altmeister überlegen, aber bloss ästhetisch, erntet er Spott und Kritik. Das breite Publikum urteilt oft genau umgekehrt. Aber kaum ein Intendant, ausser eine aus der Zeit gefallene Impresario-Figur wie Pereira, will hören: Endlich ist die Inszenierung wieder mal schön! Dabei kann Retro schön sein, wie die Salzburger Osterfestspiele eben bewiesen.
Entführung aus dem Serail
Sa, 17.6.–Sa, 1.7.
Teatro alla Scala, Mailand
Karten online: http://www.teatroallascala.org