Die Erinnerung ist ein heikler Gradmesser. Doch im Fall von Heinz Holligers Oper «Schneewittchen» täuscht sie nicht. Der stereotyp wiederholte Satz «Die einzige Uraufführung mit Gehalt in der Ära von Alexander Pereira war Heinz Holligers Schneewittchen» stimmt bis heute. Wer es nicht glaubt, fahre in den nächsten Wochen nach Basel, wo Holligers Oper verdienstvollerweise gespielt wird. Das Theater ehrt damit jenen Schweizer Musiker, der als Oboist Weltruhm erlangte, dann als Komponist und Dirigent bleibende Akzente setzte.
Märchen, ab 16 Jahren
Die Wahl des Stücks ist mutig. Denn nichts ist für ein Theater schwieriger, als moderne, bereits gespielte Werke anstelle medienwirksamer Uraufführungen auf den Spielplan zu setzen. Zu hoffen ist, dass Theaterzauberer Achim Freyer eine genauso spannende szenische Lesung für den Märchenstoff finden wird wie damals Regisseur Reto Nickler.
Das Wort «Märchen« ist allerdings etwas irreführend. Das Theater Basel gibt sogar die Alterslimite «Ab 16 Jahren« für die Aufführung an. Schon 1998 wäre dieser Zusatz richtig gewesen. Der NZZ sagte Heinz Holliger damals: «Ich habe einen Text gewählt, der dort beginnt, wo alle Märchen aufhören; die Märchenfiguren sind längst tot, kommen aus der Nacht hervor, probieren m.gliche Verhaltensmuster aus und verkörpern sie manchmal so, dass aus dem Spiel plötzlich Wirklichkeit zu werden droht.»
Prächtige Klangbilder
Holligers Oper setzt das grimmsche Märchen also voraus, stellt aber die Frage nach Versöhnung und Vergessen zwischen den vier Hauptfiguren in den Vordergrund. Ein Happy End gibt es nicht, das komplexe Geflecht bleibt bestehen. Schneewittchen, das Sinnbild von Reinheit, windet sich in einer heillosen Welt und in unauflösbarer Verstrickung mit den anderen Figuren… Dramatischer Höhepunkt ist die Wiederholung der berüchtigten Mordszene – die für Schneewittchen beinahe tödlich endet. Doch die Königin beschwichtigt: «Es ist ja alles nur ein Spiel.»
Wer sich nicht mehr an die Zürcher Aufführung erinnern kann, dem hilft eine CD weiter: Nur vier Monate nach der Uraufführung im September 1998 gingen die Protagonisten der Aufführung ins Radiostudio Zürich und spielten das «Schneewittchen» ein. Die CD ist ein bestechendes Dokument, das von einem ausgeglichenen Ensemble getragen wird. Die deutsche Sopranistin Juliane Banse überzeugte in der szenischen Produktion sowie auf der CD, und vor allem die Mezzosopranistin Cornelia Kallisch fasziniert als doppelzüngige Königin und Stiefmutter.
Beeindruckend, dieses Werk nachzuhören: Es rauscht, es klingelt, Stimmen tauchen bald auf, bald ab. Oder sind es die Windmaschinen? Musik an der Grenze – zum Laut, zum nicht mehr durchschaubaren Klangbild. Und gerade deswegen lässt diese Musik hinhören. Holliger begleitet nicht die Worte, sondern macht das Orchester zum Kommentator. Kein Wunder, wurde das auf ein kurzes Drama von Robert Walser bauende Werk damals von der Zeitschrift «Opernwelt» zur Uraufführung des Jahres erkoren.
Holligers Musik war und ist von Dichtungen inspiriert, die im Grenzbereich menschlicher Erfahrungen, zwischen Leben und Tod, angesiedelt sind. «Meine ganze Beziehung zur Musik ist so, dass ich immer probiere, an die Grenzen zu kommen», sagte er einst. Texte von Nelly Sachs, Georg Trakl oder Friedrich Hölderlin haben für seine Kompositionen Pate gestanden. Und immer wieder Robert Walser (1878–1956): Seit seiner Jugend ist Holliger vom dichterischen Werk und Universum des 1878 geborenen und von seiner Zeit zum «Wahnsinnigen» erklärten Schriftsteller fasziniert. Mit den Liedern «Beiseit» nach seinen Gedichten hat Holliger Walser 1990 ein Denkmal gesetzt.
Worte als Funken
Das von Heinz Holliger aus Robert Walsers Vorlage gefertigte Schneewittchen-Libretto beruht auf einem frühen Dramolett Walsers, der ebenfalls an einer Grenze, an der Sprachgrenze in Biel, aufgewachsen ist. Walsers Worte, sagt Holliger, hätten Klang nicht nötig. Aber das, was zwischen den Worten an Bezügen, an geheimen Funken vorhanden sei, habe er zu Musik gemacht. Zu einer äusserst dichten Musik, die immer am Wort bleibt und damit seine Verständlichkeit gewährleistet.
CD
Heinz Holliger
Schneewittchen
Orchester der Oper Zürich,
Leitung Heinz Holliger
(ECM 2000)
Aufführung
Schneewittchen
Ab 16 Jahren
Premiere: Do, 20.2. 19.30 Theater Basel
www.theaterbasel.ch
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