Gut, man kann sich heutzutage noch unkorrektere Bühnen-Themen vorstellen: Das Omikron-Virus als Freiheits-Trychler, George Floyd als rächender «Black Lives Matter»-Zombie-Killer oder Wolodimir Selenski in seiner neusten Comedy-Rolle als Schosshündchen Putins. Aber nach der weltumspannenden MeToo-Bewegung geht eigentlich auch «Les Liaisons dangereuses» («Gefährliche Liebschaften») nicht mehr. Denn da geht es im Kern darum, dass ein Mann wettet, jede, auch die ehren und standhafteste Frau ins Bett zu kriegen.
Pierre-Ambroise-François Cho-derlos de Laclos (1741–1803), französischer Offizier und Schriftsteller aus Amiens, hinterliess nichts weiter als diesen einen Roman, aber er schuf damit ein literarisches Schlüsselwerk des Ancien Régime. Die Marquise de Merteuil und der Vicomte de Valmont waren einst ein Liebespaar, aber beiden sind die konventionellen Formen des Zusammenlebens zu langweilig geworden. Sie erfreuen sich nicht nur eines ausschweifenden Lebenswandels, sondern auch daran, mit kunstvollen Intrigen und Täuschungsmanövern ihre Umgebung in die Abgründe sexueller Verderbtheit zu treiben.
Zwar gelingen ihre Intrigen zuerst wunschgemäss, aber immer mehr verheddern sie sich im Geflecht ihrer Machenschaften, und am Ende steht der uneingeschränkte Triumph der Tugend: Die entjungferte Unschuld geht ins Kloster, die gefallene Verführte wird durch geistige Umnachtung bestraft, der Weiberheld Valmont stirbt in einem Duell, und die Marquise verliert nicht nur ihr Vermögen, sondern auch das, worauf sie besonders stolz war: ihre Schönheit.
Eine neue Geschichte mit bestehenden Arien
Die Story, die Laclos als Briefroman erzählt, ist zwar fragwürdig, aber sie ist auch exquisit formuliert und hat es durchaus verdientermassen in den Olymp der Weltliteratur geschafft. Das Buch erschien 1782, natürlich war es der erwartete Skandal, und natürlich interessierten sich auch Film- und Theatermacher für ein so delikates Thema: 1959 drehte Roger Vadim die erste Kino-Version, der Brite Stephen Frears verfilmte 1988 den Stoff mit Glenn Close, John Malkovich und Michelle Pfeiffer, und ein Jahr später liess auch Milos Forman in «Valmont» Colin Firth und Annette Bening als unwiderstehliches Intrigenpaar auftreten.
Diese Geschichte wollte auch Vanni Moretto erzählen. Der Italiener ist ein vielseitiger Komponist, der auch in der Welt der barocken Oper daheim ist. Er hat sich mit stilistischen Fragen beschäftigt, Editionen publiziert und auch immer wieder Barockmusik aufgeführt. Und so kam er auf die Idee, die Musik für «Les Liaisons dangereuses» nicht selber zu komponieren, sondern dafür schon bestehende Musik auszuwählen, die aus der Zeit der Entstehung von Laclos’ Briefroman stammt.
Das Ergebnis ist ein sogenanntes «Pasticcio» («Pastete»), eine Form, die man in der Barockoper sehr geschätzt hat: Man erzählt eine neue Geschichte mit Hilfe von bestehenden Arien eines oder auch mehrerer Komponisten und verbindet die Handlung mit neu komponierten Rezitativen, welche die Story verdeutlichen.
Emotionale Achterbahn im Baukastensystem
Das alles funktioniert deshalb problemlos, weil die Barockoper jeder Arie stets einen klaren und im Ausdruck möglichst starken Affekt zugeordnet hat: Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt, rasende Eifersucht, abgrundtiefe Verzweiflung, glühende Leidenschaft, lodernde Rache. So kann der Arrangeur eines solchen Pasticcios ganz bequem aus dem Baukasten die passenden emotionalen Achterbahnfahrten zusammenstellen.
Moretto bediente sich im reichen Œuvre von Antonio Vivaldi, der nicht nur über 500 Instrumentalkonzerte, sondern auch über 50 Opern komponiert hat. Seine Adaption entstand im Auftrag der niederländischen Opern-Compagnie «Opera2day», die mit ähnlichen Konzepten schon mehrfach für Aufsehen gesorgt hat: Zum Beispiel erzählte man auf diese Weise auch die Story des «Amadeus»-Films von Peter Shaffer nach oder montierte aus Musik von J.S. Bach eine Oper, welche der Thomas-Kantor wohl sehr gerne komponiert hätte, wofür er zeit seines Lebens aber von niemandem einen Auftrag erhalten hatte.
Im Theater Biel Solothurn wird die 2019 in Den Haag uraufgeführte Inszenierung von «Les Liaisons dangereuses» des Gründers von Opera2day, Serge van Veggel, zu sehen sein. Die Besetzung führen die italienische Sopranistin Candida Guida und der aus Ghana stammende Altus Yosemeh Adjei an, das Bieler Sinfonieorchester steht unter der Leitung des Barockmusik-Spezialisten Facundo Agudin. Wer es nicht nach Biel oder Solothurn schafft oder an eines der zahlreichen weiteren Schweizer Theater, die diese Produktion zeigen werden, kann sich auch die DVD der niederländischen Original-Produktion besorgen.
Les Liaisons dangereuses
Premiere im Stadttheater Solothurn: Do, 31.3., 19.30
Premiere im Stadttheater Biel: Fr, 8.4., 19.30
Gastspiele: www.tobs.ch
DVD: www.opera2day.nl