Für einen Moment zeigt die Kamera die rosa Tapete und einige Sitzreihen des Zürcher Schauspielhauses. Verwaist liegt der altehrwürdige Pfauensaal da. Aber nur kurz, dann betreten sechs Schauspielerinnen und Schauspieler von der Seite her den Raum. Schnitt. Eine zweite Kamera zeigt nun das Bühnenbild: eine breite, graue Treppe, vor der sich die Schauspieler aufreihen. Schnitt. In der Totalansicht sieht man jetzt, wie die sechs die Treppe emporsteigen.
Ein Donnerstagabend. Kein gewöhnlicher, nein, ein «Streamy Thursday», wie ihn das Schauspielhaus Zürich nennt. Unter diesem Titel überträgt das Haus seit Dezember jeweils donnerstags ein Stück live aus dem Pfauen oder dem Schiffbau. An diesem Abend ist es «Frühlings Erwachen» von Lucien Haug nach Frank Wedekind. Am linken oberen Bildschirmrand verkündet ein Figuren-Symbol, wie viele Zuschauer von ihren Computern zugeschaltet sind: 565.
Grosser Aufwand für Heimtheater-Abend
Das Schauspielhaus Zürich ist eines von mehreren Schweizer Häusern, die ihr Angebot Corona-bedingt nach und nach auf digital umgestellt haben. Welcher Aufwand hinter den Heimtheater-Abenden steckt, wird beim Gespräch mit der Streamkoordinatorin Negi Tafreshi und der Dramaturgin Laura Paetau deutlich. Es brauche viel Koordination im Voraus, so Tafreshi. Wo werden die vier Kameras positioniert? Ist die Beleuchtung so eingestellt, dass die Bildfarbe in jedem Ausschnitt dieselbe ist? Schliesslich gebe es zwei Proben, in denen sich das Ensemble nur dem Zusammenspiel mit den Kameras widme. Paetau wiederum ist als Dramaturgin während des Streams gefordert. Basierend auf dem Skript, gibt sie vom Übertragungsraum aus den Kameraleuten im Saal per Funk Anweisungen. «Ich muss vorausschauend arbeiten – ansagen, was jetzt dann gleich passiert, und dazu animieren, neue Bildausschnitte zu wählen.» Aus all diesen Bildern sucht schliesslich die Regisseurin jene aus, welche die Zuschauer am Computer zu sehen kriegen. Bei «Frühlings Erwachen» sieht das so aus: Immer wieder wechselt das Bild zwischen den vier Kameras hin und her. Schnitte und Schwenker nehmen auch mal die Rhythmen der Dialoge auf und verstärken sie. Die Übertragung ist lebendig, unmittelbar.
Das Pfauen-Team musste sich dafür innert kurzer Zeit in die Abläufe der Live-Übertragung einarbeiten. Doch sowohl Negi Tafreshi als auch Laura Paetau merkt man die Freude an dieser neuen Form des Theatermachens an. «Es ist auf jeden Fall eine Experimentierwiese fürs ganze Haus», sagt Tafreshi – und erzählt davon, wie man etwa bei «Leonce und Leonce» einen Kameramann mit Handkamera ins Stück einbaute. «Wenn man sich darauf einlässt, bietet der Stream die Möglichkeit für eine ganz neue Entwicklung, die auch tatsächlich theatral ist», fügt Paetau an. Doch, und auch da sind sich Tafreshi und Paetau einig: Der Einsatz der Kameras muss jedem Stück angepasst werden. Einfach abfilmen geht nicht.
Wo sind die Grenzen des Livestreamings? Wann funktioniert das Format, wann nicht? Um diese und ähnliche Fragen geht es Ende Januar auch am Stream21 (siehe Box). Während zweier Tage überträgt das erste Streaming-Festival der Bühnenkunst Auftritte von Künstlerinnen, lädt zum Theatersport und Experten-Talk. «Was die Digitalisierung betrifft, sehen wir bei Kulturschaffenden sehr viel Unsicherheit und Skepsis», so der Organisator Manuel Reinhard. «Wir möchten mit dem Festival eine Plattform schaffen, auf der man einerseits gestreamte Kunst erleben kann, auf der es andererseits aber auch zum Erfahrungsaustausch kommt.» Reinhard ist überzeugt, dass die Digitalisierung die Bühnenkunst auch nach der Pandemie verändern wird. Wichtig sei aber, dass man auch über unerwünschte Konsequenzen des Formats spreche. «Die Digitalisierung kann zum Beispiel mit sich bringen, dass plötzlich ein einzelnes Theater mit seinen Streams zu dominieren beginnt.»
Ähnlich tönt es auch bei Alexandra Portmann. Sie vertritt am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Bern den Schwerpunkt Gegenwartstheater. «Beim Streaming stellt sich für mich auch die Frage, wer überhaupt die finanziellen Mittel und die Infrastruktur dafür hat», sagt sie. Spätestens seit der zweiten Corona-Welle könne sie zwar beobachten, dass nebst den grossen Häusern vermehrt auch kleine und freie Theater digitale Formate produzieren. Ein Blick nach Grossbritannien zeige aber, dass vor allem die grossen Kompanien ein breites Publikum erreichten – jene Häuser, die schon seit zehn Jahren mit Livesstreams arbeiteten. «Hier stellt sich die Frage nach der Zugänglichkeit und Verbreitung von Inszenierungen. Auf welche Arbeiten haben wir Zugriff und auf welche nicht?»
Generell ist Portmann überzeugt, dass sich künftig im Zusammenhang mit der Digitalisierung vor allem einiges in Sachen Publikums-Partizipation ändern wird. «Ich finde derzeit jene Produktionen spannend, in denen sich die Paradigmen des Theaters noch einmal verschieben. Stücke finden etwa plötzlich auf Social-Media-Kanälen statt – da entsteht eine neue Ästhetik, da wird die Interaktion mit dem Publikum nochmals anders gedacht.»
Aufs Publikum kommen auch Negi Tafreshi und Laura Paetau vom Schauspielhaus Zürich zu sprechen, wenn man sie nach den Grenzen des Livestreams fragt. «Theater funktioniert nicht nur digital – es lebt so sehr von der Begegnung», sagt Paetau. Das eigene Wohnzimmer ist nun mal nicht der Pfauensaal.
Stream21 – das Streaming-Festival der Bühnenkunst
Do/Fr, 28.1./29.1. Jew. ab ca. 18.00
www.stream21.art
Streamy Thursday: Früchte des Zorns
Do, 28.1., 20.00
www.schauspielhaus.ch
Festival Stream21
An zwei Abenden sendet das erste Streaming-Festival der Bühnenkunst live aus dem Gleis21-Kulturhaus im zürcherischen Dietikon. Mit dabei: Lisa Christ, Ueli Schmezer`s Matter Live, Müslüm und weitere Gäste. Beim interaktiven Theatersport sind die Zuschauer eingeladen, vom Computer aus mitzumachen. Und im Talk mit Schauspielhaus-Co-Intendant Benjamin von Blomberg, Baba-Shrimps-Sänger Adrian Kübler, Gülsha Adilji u.a. werden die Chancen und Herausforderungen der Digitalisierung für die Kunst diskutiert.