«Es ist eben kein richtiges Theater.» So tönt es aus vielen Ecken. Und so sprach es die Tarantino-mässig gestylte Schwester Inge schon 2012 in der Inszenierung von Wolfram Lotz’ «Einige Nachrichten an das All» in die Kamera. Zu sehen war das Stück kürzlich im Online-Spielplan auf www.nachtkritik.de.
Es fehlt der Live-Moment, das Soziale und Unmittelbare. Online-Theater ist bloss das digitale Abbild des theatralen Moments. Und doch suchen die Kulturinteressierten danach – und finden so einiges. Streams, Archivvideos und Audioformate. Kulturschaffende posten fast ohne Unterlass. Von ihren Küchentischen aus rufen uns die Bühnenmenschen zu: «Wir sind noch da!» Nach dem Lockdown setzte eine mediale Flut ein, die mit berechtigter Kritik zu kämpfen hatte. Denn: Auch Posts und Videos wollen gestaltet sein.
«Ich glaube, viele fühlten sich unter Zugzwang, etwas zu bieten, Streams oder Mitschnitte online zu stellen», sagt Benjamin von Blomberg, Co-Intendant des Schauspielhauses Zürich. Viele Aufnahmen von Theater jedoch zielen an den Zuschauern vorbei, sagt er. «Wir wollten deshalb streng mit uns sein und ein Angebot schaffen, das den theatralen Moment digital anders versucht.» Mittlerweile sind so Formate entstanden, die sehr positiv ankommen. Etwa die Corona Passionsspiele von Nicolas Stemann als Serie von Filmen, die auf der Website des Schauspielhauses zu sehen sind. Der Regisseur schreibt und komponiert nun das Leidensspiel, um das Leiden zu überwinden. Das dabei generierte Material wird nach dem Lockdown zur Aufführung kommen, «um die Seuche, das Leiden zu bannen – für immer!».
Sogar das Publikum wird miteinbezogen
Zudem schreibt die Autorin Sibylle Berg für den Pfauen jeden Tag Postkarten, und im leeren Theatersaal wuchert es: Der Videokünstler Luis August Krawen zeigt jeweils freitags, was im leeren Theater geschieht und gedeiht. Und Christopher Rüpings erste Inszenierung für den digitalen Raum von Kieslowskis «Dekalog» entsteht als interaktiver Live-Stream. Ausgehend von den 10 Geboten geht Rüping mit dem Ensemble den Fragen nach, was richtig und was falsch ist. Die Solos werden so gestreamt, dass das Publikum währenddessen mitentscheiden kann, wie es weitergeht.
Mit kleinen Formaten corona-adäquat einsteigen
Kleinere Theaterhäuser hingegen haben grösstenteils Sendepause. Auch im Kleintheater Luzern, wo alle Arbeit aufs Minimum reduziert und Kurzarbeit angemeldet wurde. «Ich geniesse diese Zeit ohne Unterhaltungspflichten, eine Art Kulturdetox, in der das Leben nicht zielgerichtet sein muss», sagt Co-Leiterin Judith Rohrbach, die das Haus gemeinsam mit Sonja Eisl leitet. «Am Anfang stand der Schock, wenn scheinbar alles zusammenbricht. Da musste man sich erst mal sammeln und durchatmen.» Mittlerweile jedoch sei das Haus gut aufgegleist, es ziehen alle am selben Strick. «Trotzdem geht es noch oft darum, Paragrafen zu wälzen und zu klären, wer denn nun wo was beantragt», sagt Rohrbach.
Im Schauspielhaus Zürich herrscht ebenfalls Stille, alle sind zu Hause, die meisten in Kurzarbeit. In der Kommunikation und Vermittlung, in der Dramaturgie und bei der Intendanz jedoch läuft es auf Hochtouren. «Da wir ständig daran arbeiten, unsere Inhalte neu und anders zugänglich zu machen, funktioniert die Situation wie ein Katalysator», sagt von Blomberg. Die meiste Arbeit werde jedoch nun in die Planung gesteckt, wie man bei der Lockerung beginnen wird. «Wir haben das Privileg, dass unsere Subventionen und Löhne sicher sind. Das wollen wir zurückgeben.» Deshalb werden zahlreiche Ideen für Formate gewälzt, mit welchen man für ein kleineres Publikum corona-adäquat wieder einsteigen kann. Denn die Hauptsache ist: sobald wie möglich wieder loslegen zu können. «Dass die Menschen wieder beieinander sein, gemeinsam Kultur (er)leben können – und sich dabei sicher fühlen.» Er jedenfalls könne es kaum erwarten, das Theater wieder zu öffnen und auch selbst zu besuchen.
In der inhaltlichen Auseinandersetzung beobachtet Judith Rohrbach in der Kultur zwei Gruppen. Die eine, die den Stillstand auszuhalten versucht, es gären lässt. Und die andere, die unzählige Ideen wälzt, Kontakte aufleben lässt und Dossiers überarbeitet. So wurde das Kleintheater Luzern bereits für Co-Produktionen für die Saison 21/22 angefragt. «Allgemein ist unsere Planung sehr weit vorgerückt», sagt Rohrbach.
«Die Krise verändert den Blick auf Stoffe»
Eigentlich wäre jetzt die Zeit, in der die Kleinkunsthäuser an der Thuner Kleinkunstbörse und den Premieren Neues entdecken – und buchen. Junges und Unbekanntes hat nun schlechtere Karten. Denn per Video zu visionieren, sei schwierig, das Live-Ereignis sei nicht ersetzbar, so Rohrbach. Und sie ist überzeugt: «Live-Unterhaltung wird einen ganz neuen Stellenwert erhalten.»
Dass die Krise Auswirkungen auf das Programm der Zukunft haben wird, ist für von Blomberg unbestritten. «Auch bereits gesetzte Stücke werden durch Corona neu aufgeladen, der Blick auf Stoffe verändert sich.» Durch die Krise geraten essenzielle Fragen zum Zusammenleben, aber auch zum Sinn des Lebens unters Brennglas. Politische und gesellschaftliche Themen, wie häusliche Gewalt, Chancengleichheit und Migration rücken in den Fokus. «Ich kann mir auch gut vorstellen, dass wir wählerischer darin werden, wie wir Zeit nutzen, wie und welche Kultur wir rezipieren», sagt von Blomberg. So wolle das Schauspielhaus Zürich auch weiter an einem nachhaltigen Programm arbeiten, auf Qualität statt Quantität setzen.
Online-Angebote Schauspielhaus Zürich
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Sehenswerte Online-Angebote
Es lohnt sich, den Theaterhäusern online zu folgen. Das Konzert Theater Bern knüpft in kurzen Homevideos an aktuelle Stücke an (www.konzerttheaterbern.ch). Auf der Webseite des Luzerner Theaters finden sich alle drei Staffeln des Theaterexperiments «Taylor AG» über die Zukunft der Arbeit (www.luzernertheater.ch).
Das Berliner Ensemble hat seine Archive zu-gänglich gemacht (www.berliner-ensemble.de). Nachtkritikstream bietet einen spannenden Online-Spielplan aus Mitschnitten von Inszenierungen (www.nachtkritik.de). Und auch auf der Plattform www.spectyou.com findet sich eine riesige Auswahl an Theatermitschnitten. Alte Inszenierungen findet man auf Youtube: etwa die Hamlet-Aufführung von Peter Brook und Marie-Hélène Estienne oder die Uraufführung der «Publikumsbeschimpfung» von Peter Handke.
Gespannt sein darf man auf das Online-Theater Hyphe – eine Kreuzung aus Online-Game und
Theaterstück, das am 13. Mai Premiere feiert (www.onlinetheater.live).