Ein Erdbeben in der Schweizer Alpenfestival-Landschaft? Ein grosses Staunen war es schon, als im Frühling bekannt wurde, dass Reto Bieri diesen Sommer das Davos Festival zum letzten Mal leiten würde. Er tut dies gelassen, sagt mit einem Lächeln: «Ich bin nicht gefeuert, niemand fand meine Festival-Ideen zu komisch – es gibt keinen Skandal.» Nach fünf Jahren kann der Klarinettist sein Solistendasein, seine Lehrtätigkeit und das Engagement als künstlerischer Leiter des Davos Festivals nicht mehr unter einen Hut bringen.
Neben anderen Musikern und Musikerinnen schlug Bieri der Findungskommission auch den Pianisten Oliver Schnyder als seinen Nachfolger vor. Der Aargauer wird das Festival, das 1986 auf Initiative des heutigen Lucerne-Festival-Leiters Michael Haefliger gegründet worden war, ab 2019 leiten.
Bieri verpasste dem Festival seine Handschrift
Für das Davos Festival ist diese Schweizer Neubesetzung ein Gewinn. Schnyder ist kein musizierender Blender: Er hat seine Karriere behutsam aufgebaut – und spielt heute weltweit. Dank einem elterlichen Ferienhaus kennt er Davos, seine Bewohner und Feriengäste bestens. Ein gutes Klavier wurde vor kurzem ins Haus gebracht. «Davos soll für mich kein Nebenschauplatz werden», sagt Schnyder.
Dennoch ist die Ausgangslage für den Pianisten nicht leicht, hat doch sein Vorgänger dem Festival seine Handschrift prächtig aufgedrückt und seine Visionen ideal verwirklicht. Dank Bieri erlebt das Publikum an ungewöhnlichen Davoser Orten ausgetüftelte Programme, die in ihrer Komplexität einzigartig sind. Einer seiner Coups war 2017 die Erfindung des Konzertsaales für einen Pianisten und einen Zuschauer: Die Idee ging um die Welt.
Davos hat sich jungen Musikern verschrieben
Bieri hat es geschafft, eine Gemeinschaft zu schaffen, deren Kern sich jeweils am Morgen sogar zum gemeinsamen Singen trifft. Derweil sich viele Festivals mit Stars übertrumpfen wollen, hat sich Davos von Anfang an jungen Musikern verschrieben und sich «young artists in concert» auf die Fahne geschrieben. Hier bekommen unbekannte Künstler eine Plattform.
Typisch ist auch das Festivalthema für 2018: «Heute Ruhetag». Wer einen Blick ins Programm wirft, wird staunen über so viel Klugheit und Verspieltheit.
Zur Festivaleröffnung kommandiert Bieri augenzwinkernd brüllend «Ruhn!», lautet das Thema des Konzertes doch militärisch korrekt «Ruh’n, geben sie Ruh’n».
Gespielt wird am 4. August unter anderem ein Streichsextett der diesjährigen Composer in Residence Dobrinka Tabakova, einer 1980 geborenen britisch-bulgarischen Komponistin. Tags darauf geht es mit keiner Geringeren als Patricia Kopatchinskaja, die für jeden Spass zu haben ist, auf eine Wanderung, ist sie doch «Artist in Ruhe 2018». Die Stargeigerin wird nicht spielen, sondern in Davos auf unterschiedliche Art und Weise für Ruhe sorgen.
Und wer meint, dass in Davos nur Schabernack getrieben wird, irrt sich gewaltig und sollte gleich in den Ruhestand versetzt werden oder ins Konzert am Montagabend, wo Morton Feldmans (1926–1987) legendäres 2. Streichquartett aufgeführt wird. Es ist das längste in der Geschichte der Gattung und dauert ganze 5 Stunden. Typisch Davos lautet der Konzertzusatz: «Ein-/Ausstieg jederzeit möglich».
Und selbst vor der Oper scheut man sich nicht zurück, wird doch Leo Dicks (*1976) Kammeroper «Aus dem Leben einer Matratze bester Machart» uraufgeführt, ehe im Waldfriedhof Krematorium musiziert wird. Und sozusagen in Fortsetzung dieses Abends feiert man am 15. August ein Leichenmahl zum Gedenken an besondere Gäste der Schatzalp: In unterschiedlichen Räumen des Hotels Schatzalp wird Musik gespielt, die an Thomas Mann, Sir Arthur Conan Doyle, Peter Tschaikowsky und Albert Einstein erinnert.
Auch Schnyder wird viel Spielraum erhalten
Es gehört auch zur famosen Idee des Davos Festivals, dass man dem künstlerischen Leiter die Freiheit lässt, mit einem weissen Blatt Papier zu beginnen. Schnyder muss kein Bieri-Festival machen. Der Anteil der Sponsorengelder ist in Davos mit 65 Prozent enorm hoch. Da auch Subventionen hinzukommen, muss bloss ein Viertel des Etats durch Kartenverkäufe hereingeholt werden: Das gibt viel Spielraum bei der Programmation, den Bieri auszureizen wusste und Schnyder ausreizen darf. Die Davoser vertrauten dem einen und werden dem anderen mit Interesse begegnen. Denn Vertrauen aufzubauen, versteht auch Oliver Schnyder. Hat er doch in einer alten Druckerei in Baden eine Klavierreihe initiiert, die mittlerweile ein treues Publikum in den Saal strömen lässt, egal, ob Stars oder Newcomer auftreten. Vor grossen Namen hat Schnyder keine Angst. Im Gespräch hat er schon mal angetönt, dass er die jungen Musiker mit dem einen oder anderen Kaliber konfrontieren werde.
Davos Festival
Sa, 4.8.–Sa, 18.8.
Diverse Orte Davos GR
www.davosfestival.ch
CDs
Classical Music Festival in Switzerland
Ascona, Boswil, Davos u.a.
13 CDs
(NZZaS/Sony 2018)
The Beethoven Project
Complete Piano Concertos & Overtures Oliver Schnyder, Luzerner Sinfonieorchester, James Gaffigan
(Sony Classical 2017)