kulturtipp: Oliver Ressler, Sie kommen von einem Dreh aus Istanbul zur Flüchtlingsproblemaktik. Was nehmen Sie davon mit?
Oliver Ressler: Ich habe in Istanbul zwar mit Flüchtlingen gearbeitet, allerdings nicht zur «Flüchtlingsproblematik». Meiner Meinung nach gibt es gar keine Flüchtlingsproblematik. Es gibt vielmehr ein Problem mit europäischen Regierungen, die ihren in der Genfer Flüchtlingskonvention festgeschriebenen Verpflichtungen nicht nachkommen, die menschenverachtende Gesetze erlassen, Fluchtrouten über das Mittelmeer lenken und damit den Tod von Zehntausenden in Kauf nehmen. Mein Film wird europäische und türkische Politik aus der Sichtweise von in Istanbul lebenden syrischen Flüchtlingen analysieren. Er wird Ende November als Teil der Einzelausstellung in Istanbul erstmals zu sehen sein.
In einem Text über Sie ist zu lesen: «Er stösst deplatzierte Angelegenheiten aus der Dunkelheit ans Licht.» Worauf fokussieren Sie gegenwärtig?
Diese Strategie kommt in manchen meiner Arbeiten zur Anwendung. Die aktuelle Arbeit verfolgt eher den Ansatz, Menschen, die üblicherweise zu Objekten von Handlung degradiert werden, als handelnde Akteure wahrzunehmen, die imstande sind, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen und die politischen Handlungen, in die sie als syrische Flüchtlinge unfreiwillig verstrickt sind, selber zu analysieren.
Schon in den 1990er-Jahren haben Sie mit Kunstprojekten verheerende Auswirkungen der Globalisierung kritisiert. Multinationale Unternehmen bestimmen unser Leben aber immer mehr. Ihr Kampf gegen Windmühlen muss frustrierend sein.
Der Fokus auf Konzerne und Globalisierung verdeckt sehr oft, dass die Nationalstaaten massgeblich an der Herstellung von Strukturen beteiligt sind, die diese Machtfülle von privaten Akteuren erst ermöglichen. Es stimmt, dass sich die Welt in den letzten beiden Jahrzehnten in die falsche Richtung bewegt hat. Wir können aber seit den Protesten in Seattle 1999 auch eine neue Form von international koordinierten, horizontal organisierten Widerständen verfolgen, die sehr erfolgreich sind. Sicher ist, dass die Welt ohne diese Proteste um einiges schlechter dastehen würde. Ich bin übrigens gar nicht frustriert, da ich überall Versuche sehe, die bestehende Form der Politik und des kapitalistischen Wirtschaftens auf den Schrottplatz der Geschichte zu hieven. Wer hätte es noch vor ein paar Jahren für möglich gehalten, dass ein weit links stehender Kandidat bei den Vorwahlen in den USA beinahe demokratischer Präsidentschaftskandidat geworden wäre? Oder dass in Barcelona eine Aktivistin, die gegen Zwangsräumungen aktiv war, zur Bürgermeisterin gewählt würde? Wer solche gesellschaftlichen Brüche nicht wahrnimmt und dem Irrglauben aufsitzt, alles werde wie gehabt in den gewohnten Bahnen weitergehen, ist naiv.
Sie sind ein «lauter», weltweit aktiver Künstler und protestieren gegen Ungerechtigkeiten. Hatten Sie nie Schwierigkeiten?
Ich weiche Schwierigkeiten nicht aus und empfinde es als Herausforderung, unter schwierigen Situationen Arbeiten zu entwickeln. Klar, hatte ich auch schon Schwierigkeiten, etwa als ich nach einem gewonnenen Wettbewerb in einem Akt politischer Zensur die mir zustehenden Gelder nicht ausbezahlt bekommen habe. Aber im Vergleich zu den Schwierigkeiten, mit denen Hunderte Millionen Menschen zu kämpfen haben, um nur das Essen für den nächsten Tag sicherzustellen, sind meine Schwierigkeiten marginal.
Sie klagen mit Ihren Videoprojekten an und beziehen als «sprechender Künstler» Position. Warum nicht in die Politik?
Was ich mit meiner Kunst mache, ist Politik. Falls Sie mit Politik jene Tätigkeiten meinen, die in unseren Parlamenten praktiziert werden, würde ich diese eher als die Verwaltung des Bestehenden unter der besonderen Berücksichtigung der Interessen des Kapitals beschreiben. Das hat mit Politik nichts zu tun. Frei nach Jacques Rancière findet Politik dort statt, wo die Logik der Herrschaft durchkreuzt wird.
Welche Welt möchten Sie den kommenden Generationen hinterlassen?
Eine demokratische Welt, die die Interessen der Schwächsten auf einem globalen Level berücksichtigt, in der die Grundvoraussetzungen des Lebens, die im Moment durch die globale Klimaerwärmung gefährdet sind, intakt bleiben, die Ökonomie dem Wohle der Menschen dient und nicht Einzelnen oder Aktionären. Ich glaube nicht, dass in dieser Welt Platz für transnationale Konzerne, Erdölfirmen oder Berufspolitiker der Art wäre, wie wir sie heute kennen.
Was kann Kunst dazu beitragen?
Wenn man gesellschaftlichen Wandel ernst nimmt, kann Kunst darin eine grosse Rolle spielen. In meinem Fall als Katalysator für Prozesse, der bestimmte Dinge zueinander in Bezug setzt und zusammenführt, eine Öffentlichkeit für gewisse politische Praxen und Gruppierungen herstellt. In meiner künstlerischen Praxis werden Kunst und Politik nicht als zwei voneinander getrennte Felder behandelt. Ich versuche, künstlerische Arbeiten zu schaffen, die mit einem grösseren Publikum kommunizieren und ohne einen übermässigen Dechiffrierungsaufwand gelesen und verstanden werden können.
Der Prix Thun für Kunst und Ethik ist mit 25 000 Franken dotiert. Wo wird die Preissumme investiert?
Das Preisgeld versetzt mich in die glückliche Lage, eine Reihe von Projekten, an denen ich bereits arbeite, fortzuführen. Der Preis ermöglicht mir eine optimale Arbeitssituation.
Interview: Peter Salvisberg
(Das Interview wurde schriftlich geführt.)
Prix Thun für Kunst und Ethik
Der mit 25 000 Franken dotierte Prix Thun für Kunst und Ethik geht an Kunstschaffende, die sich für eine nachhaltige Welt einsetzen. Er wird dieses Jahr erstmals verliehen, und zwar an den 1970 geborenen Österreicher Oliver Ressler. Der Künstler setzt sich in seinen Installationen, Fotografien und Filmen mit Themen wie Ökonomie, Demokratie, globale Erwärmung und mit verschiedensten Widerstandsformen auseinander. Als charakteristisch für seine Arbeit ist sein Fokus auf gesellschaftliche Alternativen zum Bestehenden.
Preisverleihung
1. Prix Thun für Kunst und Ethik
Do, 1.9., 18.00 Konzepthalle Thun BE
Ausstellung
Oliver Ressler: Confronting Comfort’s Continent
Bis Mo, 10.10. Fabbrica del cioccolato Torre-Blenio TI