Der Garten meiner Eltern lag an der lehmig-felsigen Flanke des Zürcher Uetlibergs und schenkte uns Ruhe, süsse Beeren und riesige Wachsbohnen. Runde Geburtstage feierten wir mit böhmischem Kartoffelsalat, dichtgedrängt auf den rührend unkundig zusammengezimmerten Holzbänken sitzend. Bei unsicherem Wetter hofften wir Kinder insgeheim auf ein Gewitter: Es gab nichts Lustigeres, als den Erwachsenen dabei zuzusehen, wie sie hektisch das Festmahl in unzählige Kühlboxen retteten, eilig die Sonnenschirme zusammenklappten und vollbepackt und mit eingezogenen Köpfen über die steile Treppe zu den Autos hasteten. Wir durften im Laderaum unseres kanariengelben Kombis das Ende des Gewitters abwarten. Zwischen Tüten und Taschen kauernd, hörten wir dem Donner und den Erwachsenen zu, die sich erst lautstark über den Wetterbericht ausliessen, um danach meist in ein befreiendes, gemeinsames Gelächter auszubrechen. Nie hätte ich damals gedacht, dass ich mich jemals vor dem Wetter fürchten würde.
Viele Jahre später: Der Sommer 2003 liess meine innige Liebe zur heissen Jahreszeit erkalten – oder vielmehr verdampfen: Heisse Luft umschloss die Stadt wie eine undurchdringliche Mauer, in den stickigen Strassen und S-Bahnen wurde das Atmen schwierig. Die Hitzewelle hatte etwas Unangenehmes und Unheimliches – trotzdem blieb der Begriff «Globale Erwärmung» für mich weiterhin ein Bestandteil von Nachrichtensendungen. Mir fiel die Häufung von Hochwassern, Hitzewellen, Stürmen und Dürren zwar auf, ich setzte sie aber nicht in Relation zu meiner Art zu leben. Ich flog in Europa hin und her, machte 2014 den späten Fahrausweis, reiste mit dem Camper und konsumierte sorglos und unbewusst. T.C. Boyles Roman «Ein Freund der Erde» verschlang ich fasziniert als treffende, düstere Vision einer sehr fernen Zukunft. Erst die Wetterereignisse an meinem jetzigen Wohnort, einem beschaulichen, ländlichen Weiler, zerrissen mit eindrucksvoller Wucht den abstrakten Schleier des Wortes Klimawandel.
Am 3. Januar 2018 sitzen meine Frau und ich am grossen Wohnzimmertisch und horchen angespannt: Der Sturm zerrt jaulend am Haus, die Dachbalken ächzen und knarren. Zum Glück schlafen Hund und Katzen sicher und wohlig zusammengekringelt auf Sofa und Sessel, als eine besonders heftige Böe Ziegel vom Dach reisst und es in der Küche zu regnen beginnt. Am nächsten Tag wird sichtbar, mit welcher Gewalt sich «Burglind» durch die Wälder gepflügt hat. Wir kommen mit einem Schrecken und kleineren Schäden davon, was bleibt, ist ein diffuses, dumpfes Gefühl der Verletzlichkeit und Sorge.
Am 2. Juli 2020 steht Starkregen stundenlang direkt über unserem Haus und überschwemmt Strasse und Werkstatt: Wir waten mit aufgekrempelten Hosen durchs kniehohe Wasser und betrachten hilflos die braunen Fluten. Auch diesmal wird niemand verletzt, Sachschäden und Aufräumarbeiten halten sich in Grenzen, aber wir spüren: Es könnte wieder passieren.
Am 28.Juni 2021 wird es noch bedrohlicher: Ich sitze als Beifahrerin in einem Bus, während riesige Hagelkugeln wie Geschosse gegen Dach und Scheiben knallen. Ohne Blessuren zuhause angekommen, sehe ich den zerstörten Garten, zerschlagene Pflanzen, Töpfe, Ziegel und Autoscheiben. Wiederum bleibt unsere Hausgemeinschaft unverletzt, aber diesmal sitzt der Schock tief. Die Unwetterserie dauert lange und findet mit der Flutkatastrophe in Deutschland ihren grausamen Höhepunkt. Szenen, die ich seit Jahrzehnten auf dem Bildschirm abgestumpft betrachtet hatte, spielen sich jetzt in meiner unmittelbaren Umgebung ab. Ich verfolge fiebrig alle Wetterentwicklungen und spüre vor jedem aufziehenden Gewitter Besorgnis. Wie muss es all jenen gehen, die durch Unwetter viel Schlimmeres erlebt haben? Es sind keine fernen tropischen Wirbelstürme mehr, die ich mit komfortabler Ignoranz den ohnehin Armen dieser Erde zuordnen könnte (die notabene am allerwenigsten zur Katastrophe beitragen). Ich beginne zu begreifen, dass wir alle in diesen Fluten untergehen könnten.
Die irreversiblen Schäden durch das CO2 in der Atmosphäre können weder rückgängig gemacht noch verdrängt werden. Die Erfahrbarkeit der fortschreitenden Katastrophe und die Agonie, mit welcher ihr Politik und Gesellschaft noch immer grösstenteils begegnen, machen mein bisheriges Lebenskonzept fragwürdig. Was kann ich als Künstlerin tun ausser mahnen, erinnern, aufrufen und persönlich verzichten? Satire und Sarkasmus scheinen mir in dieser Zeit digitaler Schlammschlachten und grassierender Gehässigkeiten hinfällig und kontraproduktiv, dennoch möchte ich den Humor nicht verlieren.
In resignierten Momenten scheint mir mein Tun schwach und läppisch. Ich schaue bestürzt auf die nackte Brutalität sozialer Spaltung, auf die heuchlerische Politik als devote Dienerin der Grosskonzerne und Banken und auf die tiefen gesellschaftlichen Gräben: Der Zweifel am Gelingen einer gemeinsamen Umkehr wird übermächtig.
Ich begreife, auf welch tönernen Füssen unser System steht und wie deren Risse durch das Brennglas der Pandemie vergrössert werden. Die Sehnsucht nach den freundlichen, harmlosen Sommergewittern im Garten meiner Kindheit macht meine Seele wund. Die Ahnung, dass jegliche Unbeschwertheit aus meinem und unser aller Leben endgültig verschwunden sein könnte, schmerzt. Die Scham darüber, dass mich all diese Gefühle aus einer noch immer höchst privilegierten Lage heraus überkommen, macht mich mir selber unerträglich. Ich wünsche uns allen Kraft, Besonnenheit und Mut, auf den stürmischen Wellen dieser grossen Zeiten zu schwimmen.
Olga Tucek
Die ausgebildete klassische Sängerin Olga Tucek ist mit tschechischen Wurzeln 1973 in Zürich geboren und aufgewachsen. Seit 22 Jahren ist die Musikerin, Songschreiberin, Darstellerin, Dichterin und vor allem Bühnenaktivistin auf Kleinkunstbühnen, auf der Strasse, in Gärten und im Wald anzutreffen. Immer dabei ist das Akkordeon, das ihr als Dialogpartner und Kleinorchester dient. Im Duo Knuth und Tucek mit der Schauspielerin Nicole Knuth hat sie alle erdenklichen Kabarett- und Kleinkunstpreise gewonnen. Tucek tritt seit 2020 nur noch mit Soloprogrammen auf.