Sie sind wieder angesagt und liegen mannigfach in den Auslagen der Buchhandlungen: die «wahren Geschichten», die literarisch aufgearbeitet werden wollten. Thomas Strässle hat lange damit gewartet, seine familiäre Vergangenheit zum Thema eben nicht eines Essays oder einer Vorlesung zu machen, sondern zum literarischen Stoff. Der Germanistikprofessor und TV-Kritiker beim «Literaturclub» auf SRF 1 hat die belletristische und etwas angestaubte Gattung der Novelle gewählt, um sich an das einschneidendste Lebenskapitel seiner Eltern zu erinnern.
Die Fakten sind aufsehenerregend, aber einfach: 1966 holte Strässles Schweizer Vater Urs seine ostdeutsche Freundin Birgit aus der DDR in die Schweiz. Damals ein gefährliches Unterfangen, das nicht nur den Mut des jungen Liebespaares erforderte, sondern auch Cleverness und akribische Vorbereitung.
Der damalige Student verbrachte Wochen und Monate damit, einen Weg zu finden, der zwar riskant, aber nicht per se lebensbedrohlich war. Einen Weg aus dem Osten in den Westen. Hierfür besuchte er mehrmals «seine» in Dresden studierende Birgit sowie den Flughafen Prag. In Prag nämlich schaffte das Paar dann das vermeintlich Unmögliche: sich durch den eisernen Vorhang zu schlängeln – auf ebenso einfache wie elegante Weise.
Der Rhythmus der Autobahnplatten
Zur «Republikflucht» sind seit Jahrzehnten Romane und Spielfilme erschienen, Sachbücher, Reportagen und Dokumentationen. Die Frage stellt sich also, weshalb der 52-jährige Thomas Strässle die Geschichte seiner Eltern jetzt erst erzählt.
Inspiriert habe ihn, wie er im Nachwort seiner Novelle verrät, der Aargauer Literat Hermann Burger (1942–1989), der die Geschichte der Strässles literarisch verarbeiten wollte. Dessen Typoskript eines Gesprächs mit den Strässles hat Thomas Strässle im Schweizerischen Literaturarchiv in Bern gefunden und nun als Vorlage für seine Novelle verwendet.
Die literarische Umsetzung wirkt nüchtern. Strässle mischt Gespräche der Eltern mit Fakten von damals und erzählt über weite Strecken protokollarisch. Er bringt Erinnerungen ein an seine Kindheit und Jugend, als die Familie die Grossmutter in Karl-Marx-Stadt besuchte. Die Fahrt mit dem Familienauto in den Osten und den Grenzübertritt erlebte er geradezu physisch: «Als wir endlich durch waren, hämmerte mir der Rhythmus der Autobahnplatten ins Bewusstsein, dass wir auf der ganz anderen Seite angekommen waren.»
Wie sich diese «ganz andere Seite» für seine Eltern anfühlte, erzählt er aus deren Sichtweise. Seine Mutter betont mehrmals, «dass sie der Liebe wegen ging, nicht, weil sie von hier wegwollte».Viel tiefer geht Strässles Empathie kaum. Seine Novelle erfüllt ihre klassische Aufgabe als Bericht über ein exemplarisches Vorkommnis. «Von zwei Leben in zwei völlig unterschiedlichen Systemen. Sie hüben, er drüben – oder umgekehrt, je nach Sichtweise», wie es im Buch heisst.
Lesenswert ist die «Fluchtnovelle», weil sie den Zeitgeist des Kalten Kriegs der 1960er- bis 1980er-Jahre dokumentiert. Und weil die wagemutige Geschichte der Strässle-Eltern zum spannenden Politkrimi wird.
Lesung
Do, 16.1., 19.30
Gemeindebibliothek Rothenburg LU
Thomas Strässle
Fluchtnovelle
121 Seiten
(Suhrkamp 2024)