Mein Tagebuch hält zwei Versionen für ein noch nicht beendetes Jahr bereit. Doch, doch! Das stimmt. Ich habe vorgeblättert. So macht es das immer. (Und ich auch.) Zwischen seinen Seiten und den Zeilen darauf subsumiert sich das tatsächliche Jahr, aber da an seinem Ende finden sich immer zwei Versionen. Die eine düster, die andere hell. Ach, dieses Tagebuch 2016 hat noch viele weisse Seiten, ist eine Ringheftung, kann also wachsen und verlieren an Sätzen, Seiten, Schattierungen von Tagen. Ich lasse Sie hineinlesen in meine unsichtbaren Ausblicke. Stellen Sie sich vor: Es ist längst schon Dezember 2016 und wir blickten zurück.
Ein düsteres Jahr! Die russische Nationalmannschaft gewinnt gegen Deutschland bei der EM in Paris. Es ist dasselbe Stadion, in dem die Attentate vom November 2015 Europa erschütterten. Die deutsche Nationalmannschaft, die ohne ihre muslimischen Spieler angereist war, fährt geschlagen nach Hause. Donald Trump ist nicht nur ins Weisse Haus gezogen, sondern hat seine Drohung wahr und die Grenzen dicht gemacht für Anhänger muslimischer Religionen. Seinem Beispiel sind fast alle europäischen Länder gefolgt, und so haben wir 78 Jahre nach der sogenannten «Reichskristallnacht» der Nazis, in der unzählige Synagogen zerstört wurden, am 9.11.2016, einen Tag nach der Wahl in den USA, die erste von befürchteten weiteren «Halbmondnächten» erlebt. So der euphemistische Name für den brutalen Angriff und die Zerstörung von Moscheen in ganz Europa, vor allem in Deutschland, Frankreich und der Schweiz. Der Komet «Trinket» reisst ein riesiges Loch in einen fast menschenleeren Landstrich in der Ukraine. Leider nur fast menschenleer. Es sterben 2300 Menschen bei diesem Unglück, dem die Prognose vorauseilte, er würde in den gewaltigen Fluss Ob bei Novosibirsk stürzen. Der Februar hat wieder seinen Wackeltag verloren, überhaupt fühlt sich alles kälter, kürzer, weniger wertvoll, ja verloren an. Nora Gomringer, die auch 2016 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet wird, trennt sich von Tim Robbins, mit dem sie kurzzeitig liiert war, Julia Roberts erwartet ein weiteres Baby, was an die 50 gehend, eine medienwirksame Strapaze für Mutter und Familie darstellt. Ins Dschungelcamp werden jetzt Maden und Würmer eingeladen und Schauspieler über sie gekippt. Was sich hier noch wie eine Farce liest, wird durch Tests des Gen-Riesen Monsanto möglich: Maden und Würmer erreichen durch Fütterung mit besonderem Genmais Rekordgrössen von 1,80 m Länge. Wieder wird ein ganzes Jahr lang kein UFO gesichtet, das sich mit seiner Mannschaft bereit erklärte, führende Politiker des rechten Spektrums aus Ungarn, Tschechien und besonders dringend (!) Polen auszufliegen. Auf dem Mars wird Leben entdeckt. Ein alter eulenäugiger Säufer sitzt seit mehreren hundert Jahren in einem Krater und will nichts von der Menschheit wissen. Auf alles waren wir gefasst. Nur nicht darauf, dass man uns uninteressant finden könnte. Befragt zur Flüchtlingskrise bemerkt der Marsianer: «Ist ja kein Wunder, dass alle bei euch voneinander weg wollen. Ihr seid wider…» Zum Glück reisst in diesem Moment die Live-Übertragung ab, und wir sehen der Geburt von Julia Roberts neuem Baby zur Hockney-farbenen Weihnacht 2016 in L.A. zu. Wir streamen alles, denn Fernsehen ist nun a thing of the past.
2016 – Hillary Rodham Clinton hat gewonnen! Na, gerade so. Die unter Obama nicht erreichten Korrekturen des Gesundheitssystems der USA finden unter Hillary auf einmal wie Schlüssel in Schlösser. Wigald Boning, Helene Fischer, Hazel Brugger und Hape Kerkeling sind auf Flüchtlingspfaden durch die Mittelmeerregion gewandert, im Schlauchboot gefahren etc. Ihre Berichte für den «Stern» und «Spiegel TV» haben Millionen bewegt und davon überzeugt, dass die Flüchtlinge in der Tat schwere Schicksale durchleben und unserer Hilfe in ganz Europa tatsächlich bedürfen. Man lässt sie nun leichter passieren und will erst 2018 in den Gemeinden nachfragen, was sich verändert hat, bzw. gedenkt man, dann erst «Bürgerzählungen» durchzuführen. Bis dahin sollen einfach alle, die kommen wollen, arbeiten, beitragen, sich einleben. Deutschkurse bietet das Internet nun en masse. Der Nobelpreisträger 2016 wird nun endlich Philip Roth, der sich allerdings so sehr freut, dass er einen schweren Schlaganfall erleidet. Ob er je wieder etwas schreiben wird, bleibt unklar. Seine Dankesrede wird der Autor Stephen King für ihn sprechen. Unter dem Titel «How I won the Nobel Prize for Literature» hält King die Erlebnisse dieser Nacht in Stockholm für immer fest. Es wird dies einer der Meilensteine der Essayistik im 21. Jahrhundert. Noch im November läuft «Star Wars»-Episode 7 mit grossem Erfolg in den Kinos. Man erwägt, Dauerkinos statt Wärmestuben an verschiedenen Orten einzurichten, um der regen Nachfrage Folge leisten zu können. Pegida, AfD, Legida sind Unwörter des Jahres 2016 in Deutschland, die Kommentarzeilen in den sozialen Medien sind endlos, viele Beiträge sind weiterhin mit Emoticons versehen. Die Neue Zärtlichkeit wird ausgerufen. (Mark Zuckerberg hat tatsächlich mehrere meiner Freunde mit Millionenbeträgen beschenkt, weil sie diesen einen Aufruf Ende Dezember 2015 in ihrer Timeline auf Facebook posteten.)
Nora Gomringer
Die 1980 geborene Autorin ist Schweizerin und Deutsche, schreibt Lyrik sowie für Radio und Feuilleton und ist auf Poetry-Slam-Bühnen aktiv. 2015 erhielt sie den Ingeborg-Bachmann-Preis für ihren Text «Recherche», der kürzlich im Essayband «Ich bin doch nicht hier, um Sie zu amüsieren» erschienen ist. Nora Gomringer lebt in Bamberg, wo sie seit 2010 das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia leitet.
www.nora-gomringer.de