Zum ersten Mal war ich mit einem Mann auf eine Berghütte gefahren. Ich war so unsicher, was ich da genau tat und tun sollte, dass mir die Präpositionen durcheinandergerieten. Auf den Berg fahren war etwas grundlegend anderes, als in den Berg fahren, unter die Decke schlüpfen war verschieden von unter einer Decke gesteckt haben. Die ersten beiden Tage waren ruhig und geradezu vorbildlich. Die Berge bergten, die Sonne schien, der Mann mannte und ich, die Frau, fraute. Es war ein Idyll. Er fuhr in den nächsten Ort, um zu tanken. Ich stieg viele steile Stufen hinauf, um etwa drei Kilometer der Strasse zu folgen, auf die ich stiess, nachdem ich am Ende der Stufen angelangt war und eine kuhschissbefleckte Wiese durchquert hatte, erst in die falsche Richtung gelaufen war, dann schliesslich die richtige Richtung gefunden hatte oder besser: sie mich, denn es erschien eine Kuh vor mir, die ein Schild trug oder trug das Schild die Kuh, ich weiss es nicht mehr. Jedenfalls stand auf Kuh oder Schild: Direzione und etwas, was mir wie «Laden» scheinen wollte in dieser völlig fremden Sprache voller Vokale. Im Laden kaufte ich Brot, Milch, Kaffee, zwei grosse Dosen Bier, ein Deo und ein Stück Seife und vier Bananen. Natürlich kaufte ich mir ein Eis. Ich war schliesslich 40 Jahre alt.
Haferflocken, einen Salatkopf und Zwiebeln, sowie Essig und Öl, Tampons und Rasierklingen vergass ich. Ich packte alle tatsächlichen Einkäufe und mein Vergessen vor der freundlichen alten Dame in meinen blauen grossen Rucksack, bezahlte und legte zu viel Geld auf den Tresen, was mich sowieso beunruhigte, weil die Scheine bunt wie Spielgeld waren und ich alles Spielen ablegen und eine Bergfrau werden wollte, nachdem Stadtfrau, Wasserfrau, Tiefebenenfrau und Landfrau schon nicht geklappt hatten. Bergfrau, da war ich mit mir überein, war meine letzte Chance aufs Frausein in Landschaft. Der Mann fand mich auf dem Weg und hupte, hielt aber nicht. Ich winkte, wusste aber nicht warum.
Vor der ersten Nacht in der Hütte hatte ich ihn gewarnt. Ich hatte gesagt: Ich schlafe schnell ein, aber nie durch. Manchmal schlafwandle ich, manchmal sitze ich einfach nur in der Küche und kann keinen Zustand der Bewusstlosigkeit dafür verantwortlich machen, wenn ich esse. Meistens aber schreibe ich. Er hatte genickt und mich in den Nacken geküsst, als er aufgestanden war, sich ein Bier aus dem Kühlschrank zu holen. Oder eine der vergessenen Zwiebeln.
In der Hütte gab es viele Bücher, was mich freute. Sogar Bücher von Autorenkollegen fand ich. Der Autor war dabei, mit dem ich versucht hatte, Tiefebenenfrau zu werden. Weil nicht zwei Autoren auf Dauer schlaflos sein und nachts schreibend oder essend in der Küche sitzen können, ohne ziemlich fett oder eifersüchtig zu werden, ging das nur ein halbes Jahr. Ziemlich viel von mir war in der Protagonistin des Romans, den ich in Händen hielt, gelandet, der Autor seit zwei weiteren Büchern ein Star. Ich blätterte mich durch die verschiedenen Bücher, immer nach kurzen Notizen am Rand Ausschau haltend. Die Spuren des Lesens faszinierten mich.
Gleich in der ersten Nacht wurde ich Emily Dickinson. Mit Dutt und allem.
Ich wurde wach, fühlte, wie sich ein paar Worte einfanden, die mich weckten und an mir zogen, mich schliesslich zwangen, sie zu flüstern und flüsternd ins Bad und schliesslich in die Küche zu migrieren. Ich versuchte, leise zu stolpern, versuchte, meine Zehen die Ränder der Treppenstufen ertasten zu lassen, gebot ihnen Geduld, wollten sie nicht wie Lemminge hinunterstürzen und mich mit ihnen mitreissen. Das Bild gefiel mir, es würde eine Schreibnacht werden. Ich war hochgestimmt und stolz, den Mann nicht geweckt zu haben. Selbst nicht, als ich den Lichtschalter in der Küche drückte und ich noch im Schattenmoment etwas davonlaufen sah. Ich nehme an, es war eine Spinne, ich nehme an, sie wollte mich nicht in der Küche haben. Ich entschuldigte mich für die Störung und überlegte, ob vielleicht auf Lichtschaltern eine für Menschen nicht spürbare Vibration durch den Strom lag und Spinnen sich ihre Bäuche gerne massieren liessen? Ich stellte mir eine Spa-Spinne vor mit Handtuchturban und Gesichtsmaske und neun kleinen Gurkenscheiben auf ihren neun Augen und stellte fest, dass ich googeln würde müssen, um zu verifizieren, dass Spinnen tatsächlich neun Augen hatten. Gurken allerdings, so klein, dass ihre Scheibchen auf Spinnenaugen passten, faszinierten mich endlos, da würde ich nichts ergoogeln, denn schliesslich löschten Fakten auch Fantasien.
Ich klappte den vorsorglich am Abend bereits in der Küche postierten Rechner auf und öffnete ein neues Worddokument. Die mich aus dem Schlaf gehobenen Wörter hatten sich feige verkrochen, wohlwissend, dass sie nur im Rahmen dessen, was ich Schlaf-Grandezza nannte, bestehen konnten, nicht aber als Entsprechungen für einen nimmermüden, immerwachen, verfressenen Cursor, der erbarmungslos blinkte. In die Stille der nächtlichen Küche flüsterte ich also «buzzing bee» und merkte, wie ich mich urplötzlich verwandelte. Solcherlei Verwandlungen geschahen mir nicht selten. Ich hatte sie wie eine Tropenkrankheit, die in mir schlief, aus Japan mitgebracht, wo ich 20-jährig meinte, Geister suchen zu müssen, und viel Matcha Tee trank. In einem Bergdorf, zwei Stunden Zugfahrt ausserhalb Kyotos hatte ich ein Museum für Oni, Riesen, besucht und war auf der Toilette einer sprechenden Raupe begegnet. Weil ich bis etwa 25 mit allerlei, wenn auch nicht mit allen Tieren reden konnte, verwunderte die kleine bunte Scheusslichkeit mich nicht sosehr damals. Sie war nur leider nicht des Englischen mächtig, sodass ich ihr unablässiges Reden ertrug, aber nicht auf sie eingehen konnte, was sie augenscheinlich wütend machte. Sie schoss zwei ihrer Stachel nach mir. Einer traf mich auf der Oberlippe und liess diese sofort taub werden. Seitdem geschahen mir diese nächtlichen physischen Verwandlungen in US-amerikanische oder britische Schriftstellerinnen …
Nora Gomringer
Die Autorin wurde 1980 im saarländischen Neunkirchen geboren. Sie hat Amerikanistik, Germanistik und Kunstgeschichte studiert. Seit 2010 leitet Nora Gomringer das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia in Bamberg. Als Autorin, Dozentin, Spoken-Word-Künstlerin und Performerin ist sie rund um den Globus gereist. Die Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin mit Schweizer Wurzeln hat Lyrik- und Essaybände veröffentlicht, zuletzt ist der Gedichtband «Gottesanbieterin» bei Voland & Quist erschienen.