Auf der Bühne im Theater Neumarkt Zürich liegen grosse Netze aus schweren Seilen. Verwoben wie gigantische Spinnweben. Und wie die Figuren in Ibsens Schauspiel «Nora oder Ein Puppenheim». Verstrickt und gefangen in gesellschaftlichen Rollen und Beziehungen.
Als das Stück 1879 in Kopenhagen uraufgeführt wurde, löste es einen Skandal aus. Das egoistische Verhalten der Protagonistin stiess vielerorts auf Unverständnis und Entsetzen. Manch eine Schauspielerin weigerte sich, die Rolle der Nora zu spielen. Auch wenn die Gleichberechtigung von Frauen in Europa heute weniger brisant scheint, sind mit Mann- oder Frausein noch immer klare Rollenbilder verbunden. Für die Regisseurin Heike M. Goetze entwickelt sich ein «emanzipierter Blick» der Gesellschaft nicht nur dadurch, dass Frauen arbeiten und Geld verdienen. «Das muss auf anderen Ebenen passieren», meint sie.
Heike M. Goetze sieht in Ibsens Stück (siehe Unten) jedoch nicht nur die Emanzipation einer Frau: «In dem Puppenhaus leben viele Personen. Für mich geht es um die Verhinderung der Persönlichkeit des anderen. Um die Unmenschlichkeit neben der Menschlichkeit.»
Vom Getriebensein
Noras Mann Helmer (gespielt von Maximilian Kraus) hat von sich die fixe Idee des erfolgreichen und angesehenen Bankdirektors. Wie ein Junkie jagt er diesem Idealbild nach. Goetze stellt Helmer aber nicht als gefühlskalten «Blödian» dar, sondern als einen Getriebenen, der in hohen Selbstanforderungen gefangen ist. «Mir ist wichtig, dass man mit jeder Figur mitfühlen kann. Dass man nicht einfach urteilt, sondern die Not der Menschen sieht.»
Aus Goetzes Sicht liegt darin die Aktualität des Stücks: «Der gesellschaftliche Druck, dem wir heute ausgesetzt sind, ist mindestens so hoch wie zu Ibsens Zeit. Jeder optimiert die eigene Performance. Und ständig gleichen wir uns ab. Weiter, schneller, besser. Von einem Trend zum nächsten.»
Wie die Seile auf der Bühne sind auch die Kostüme der Schauspieler gestrickt oder ge-woben. Bewusst hat Goetze dafür Naturstoffe wie Wolle und Seide ausgewählt. «Mich interessiert die Natur in den Menschen. Die Natur, die sich plötzlich meldet und einen nächsten Schritt gehen will. Das passiert in Nora. Bis zum Schluss zerbricht sie an der Unvereinbarkeit zwischen innen und aussen – immer wieder.»
Nora als Antiheldin
Nora (gespielt von Lucy Wirth) durfte nichts lernen, musste nie arbeiten. Ihre Welt ist mit Goetzes Worten «eine Art Sprüngli-Kuchen», in dem sie mit kindlichem Narzissmus um sich selber kreist. In ihrer Naivität ist sie jedoch eigensinnig und tut etwas, das damals Männern vorbehalten war: Um Helmers Leben zu retten, unterschreibt sie einen Schuldschein. In dem Moment hat Nora nur auf ihr innerstes Gefühl vertraut. Sie ist überzeugt, das Richtige getan zu haben, und weiss gleichzeitig, dass sie gegen die gesellschaftlichen Regeln verstossen hat. Heike M. Goetze kann das gut nachvollziehen: «Ich finde, wir brauchen Antihelden wie Nora, die uns zeigen, dass es auch anders geht. Gerade heute, wo alles durch unseren Perfektionsdruck so uniformiert wird. Wenn niemand mehr die Regeln bricht, wird alles zu einer dummen, kapitalistisch bewegten Masse.» So verschafft Goetze mit ihrer Inszenierung dem Inneren auch sprachlich immer wieder Raum.
Noch will Nora ihre Rolle der guten Ehefrau erfüllen. Denn während sie sich dafür in ein Lügennetz verstrickt, hofft sie auf «das Wunderbare»: Wenn Helmer die Wahrheit erfährt, wird er zu ihr stehen und aus Liebe die Schuld auf sich nehmen. Er wird sie erkennen. Endlich. «Vielleicht kann man dieses Wunderbare gar nicht richtig fassen, vielleicht liegt es irgendwo zwischen den Dingen», glaubt Heike M. Goetze. «Aber ich bin sicher, wir haben es alle in uns.» Auf der Bühne im Theater Neumarkt ist diese «Zwischenstelle», die Vermischung von Zeit, Traum und Realität, das zentrale Motiv. Die Zustände der Figuren werden hörbar im eigens für die Aufführung komponierten Sound.
Als Helmer von Noras Tat erfährt, beschuldigt er sie panisch, sein Ansehen ruiniert zu haben, und windet sich in Verzweiflung. Da zerbricht etwas in ihr. «Es war heut Abend, als das Wunderbare nicht kam; da hab ich gesehen, dass du nicht der Mann bist, den ich mir vorgestellt hatte.» Das schmerzhafte Erwachen ist notwendig für Noras Befreiung aus den Fesseln der Konvention.
Auch darin findet Goetze Parallelen zur Gegenwart: «Das Wunderbare hat eine Kehrseite. Es kann zum überdimensionalen Idealbild von uns selbst und von anderen werden. Wir versteifen uns auf etwas, das nichts mit der Realität zu tun hat. So verlernen wir, echte Beziehungen zu führen, aufeinander zu achten und uns verantwortlich zu fühlen.»
Mut zum Ausbruch
Vielfach wurde Noras plötzlicher Wandel vom naiven Püppchen zur autonomen, reflektierten Frau als unglaubwürdig kritisiert. Goetze sieht in der Wendung vor allem das Künstlerische: «Ibsen musste etwas Grosses passieren lassen, das in der damaligen Zeit Kraft hatte.» Und vielleicht ist der Wandel gar nicht so abrupt, wie er scheint – trägt Nora nicht von Beginn an Ernsthaftigkeit und Wildheit in sich?
Bei der Erarbeitung des Stücks hat Heike M. Goetze viel von ihrem dreijährigen Sohn gelernt. Sie findet, wir sollten uns mehr vom Staunen und Hinterfragen der Kinder bewahren. Und es öfter wagen, auszubrechen, anders zu sein und frei. Wie Nora.
Nora. Ein Puppenhaus
Premiere: Fr, 6.5., 20.00
Theater Neumarkt Zürich
www.theaterneumarkt.ch
Humanist und Vorkämpfer der Frauenbewegung
Der frisch zum Bankdirektor ernannte Torvald Helmer sieht in seiner Frau Nora das «süsse Vögelchen», das ihn erheitert, munter den Weihnachtsbaum schmückt und mit den Kindern spielt. Er ahnt nicht, dass Nora ihm etwas verheimlicht: Um ihm das Leben zu retten und eine Reise in den Süden zu ermöglichen, hat sie eigenständig Geld geliehen. Ende des 19. Jahrhunderts für eine Frau unvorstellbar. Helmer erfährt von Noras Tat und macht ihr schwere Vorwürfe. Er bangt um Ansehen und Karriere. Als Nora erkennt, dass Helmer seine gesellschaftliche Stellung wichtiger ist als die Liebe, erstirbt in ihr das Bild, das sie von ihrem Mann und ihrer Ehe hatte. Sie entscheidet sich, erwachsen zu werden, und verlässt Helmer und die Kinder.
Mit «Nora oder Ein Puppenheim» (im norwegischen Original: Et Dukkehjem) wurde Henrik Ibsen (1828–1906) als Vorkämpfer der ersten Frauenbewegung in Europa gefeiert.
Er selbst sah sich im Dienst des Humanismus, der die Freiheit in den Mittelpunkt stellt.