Alles, was sie wollte, war eine Flasche kalte Limonade. Doch seit der Diagnose kam es der jungen Frau so vor, als begegne die Welt ihr anders. An Ampeln wartende Lastenradfahrer legten bei ihrem Anblick schwärmerisch den Kopf zur Seite und lächelten. Strenge alte Damen zwinkerten ihr unvermittelt zu. Kaum ein Small Talk verlief mehr ohne Anekdötchen, das die Augen ihres Gegenübers zum Glänzen brachte. Eigentlich schön. Irgendetwas, das spürte sie ganz klar, hatte sie richtig gemacht.
Zärtlich legte die Kassiererin im Supermarkt ihr die Hand auf den Bauch. Stillen sei das Beste für ihr Kind, die Muttermilch unersetzbar. Die junge Frau bedankte sich verschmitzt für den Apfel, den sie heimlich zugesteckt bekommen hatte, und verliess den Laden. Limonade hatte es nicht gegeben.
Zurück auf der Strasse gratulierte ihr eine Gruppe finnischer Segway-Touristen im Vorbeirollen zur Empfängnis. Kaiserschnittkindern fehle der Immunschutz, rief man ihr zu. Der Tourguide war so freundlich zu übersetzen.
Die junge Frau bog scharf ab. Ihr Mund war trocken. Der Abstecher in den Drogeriemarkt war nicht geplant, aber vielleicht, so hoffte sie, gäbe es hier kalte Limonade. Der Filialmitarbeiter winkte ab. Seine Frau habe neun Kinder geboren, setzte er nach, ohne Anästhesie, und es genossen.
Seit in den Krankenhäusern die Schmerzintensität der Wehen gemessen und in Tabellen veröffentlicht wurde, kam es der jungen Frau manchmal so vor, als hätte sich das Gebären zu einer Art Wettbewerb entwickelt. Am Ende jeder Woche kürten Zeitschriften die natürlichste Frau. Die Gewinnerin bekam einen Klaps auf den Po. Vom Chefarzt persönlich.
Selbst im Getränkemarkt war die Limonade aus. Die junge Frau begann zu zittern. Was hatte sie verpasst? Vor ihrer Empfängnis waren doch die Regale voll. Trinken war ein menschliches Grundbedürfnis. Die Entscheidung für oder gegen ein Getränk galt – spätestens nach der zweiten Feminismuswelle – als Akt der Wahlfreiheit und Selbstbestimmung.
Der Lagerist krempelte diskret den Ärmel hoch und deutete auf sein Tattoo. Sie verstand nicht, es musste das Zeichen einer geheimen Vereinigung sein. Er stützte die junge Frau auf dem Weg zum Ausgang und verwies sie auf einen weniger streng gentrifizierten Stadtteil. Dort, so flüsterte er, würden noch Limonaden verkauft.
Sie passierte Leuchtreklamen. «Die Brüste einer Mutter gehören in den Kindesmund» stand da über dem Bild einer weissen, säugenden Model-Mutter. Neben der Mutter stand der Chefarzt, verantwortungsvoll lächelnd, und streichelte der Frau die Brust.
In einer unbelebten Nebenstrasse erkannte sie den Schattenriss eines alten Kollegen. Genauer: seine imposanten Dreadlocks. Er hatte seinen Job zugunsten einer Karriere als Profi-Slackliner aufgegeben. Seitdem bewegte er sich an den Rändern des Viertels und suchte den Himmel nach Giftwolken ab. Unvermittelt nahm er sie bei der Hand und zog sie mit einem Ruck an sich. Sein Geruch war säuerlicher, seine Poren aus der Nähe grösser als erwartet. «Sie sagen, dass ungestillte Kinder früher sterben», zischte er in ihr Ohr. «Die Stillkommission wird von alten, katholischen Vorstandsmitgliedern der Brustpflegemittel-Industrie querfinanziert. Glaub ihre Propaganda nicht.»
Er hielt sie jetzt so fest am Arm, dass seine Knöchel weiss hervortraten. Die junge Frau war fast erleichtert über die Verkehrspolizistin, die eine Querstrasse weiter unrechtmässig auf Fahrradwegen geparkte Autos zertrümmerte. Sie lächelte herüber und gratulierte herzlich zur Mutterschaft.
Das Wort Mutter – das traute sich die junge Frau nicht laut zu sagen – klang ja speziell in ihrem Viertel noch nach Kriegsverheerung. Nach feuchten Kellern, Opferbereitschaft, Kartoffeln und dreckigen Schürzen. Sie fand, dem Wort fehlte der Swing, die Eleganz. Rammstein besangen Mütter. Sie wollte nicht von Rammstein besungen werden.
Nachdem ihr die Verkehrspolizistin die Brüste auf ihre milchgebende Tauglichkeit hin abgetastet hatte, lief die junge Frau weiter. Sie schmeckte Blut in ihrem Mund. Wortlos übertrat sie die rote Linie, die ihr Viertel von der No-Go-Area – wie der Chefarzt sie nannte – trennte.
Hier war sie noch nie gewesen. Hier wohnten Mütter mit Anpassungsstörungen. Mütter, die ihre Kinder in für die Grossstadt völlig ungeeigneten, weil klobigen Kinderwägen in die Fremdbetreuung brachten.
Sie ging gebückt. Wie viel Schuld sie jetzt schon auf sich geladen hatte. Wahrscheinlich würde sich ihr ungestilltes Baby auch schwer tun mit dem aufrechten Gang. Bei all dem Asthma und der allergischen Nieserei. Der Durst und die Unterzuckerung liessen sie halluzinieren. Sie sah sich umgeben von einer krabbelnden Armee ungestillter Kaiserschnittbabys, verklebt in einer sämigen Schicht aus Weissmehl, raffiniertem Zucker und Cervelat. Immunschwach und orientierungslos robbten sie über den Asphalt. Sie warteten auf ihre Flaschenmamis und Weissmehlvatis.
Die junge Frau war dehydriert. Sie glitt ins Delirium. In der Spiegelung einer Pfütze, aus der sie zu trinken versuchte, erkannte sie zwei kleine Figürchen. Der Chefarzt und ihr blonder Dreadlock-Kollege kühlten sich die Miniatur-Beinchen und redeten mit hoher Stimme auf sie ein. Mutterschaft, piepste der verzwergte Arzt, sei noch immer die Hall of Fame des Frau-Seins. Sie vereine in sich die heilige Trias der Weiblichkeit: Leiden, Empfangen, Gebären. Der Wursthaar-Kobold empörte sich. Sie habe öffentlich Stellung zu nehmen, seine Organisation plane einen «Stern»-Artikel mit dem Titel «Ich habe abgestillt». Die junge Frau zögerte. Sie habe sich zu militarisieren und anzukämpfen gegen die neobiologistische Stillpropaganda, quietschte der Kollege aufgeregt. Da gab ihm der Chefarzt eins auf die Nase. Die beiden Figürchen begannen unbeholfen, in der Pfütze zu rangeln, sie wurden ganz rot und schwitzten. Je lauter sie schrien, desto kleiner wurden sie. Und immer kleiner. Und kleiner.
Gerade begann die junge Frau, sich über das Spektakel zu amüsieren, da trat ihr jemand in den Bauch. Es war ihr Baby. «Gut», murmelte sie, wurde klarer, und stand auf.
Nora Abdel-Maksoud
Nora Abdel-Maksoud wurde 1983 in München geboren und hat ein Schauspielstudium an der Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolf in Potsdam-Babelsberg absolviert. Seit 2009 arbeitet sie als freischaffende Schauspielerin für Film- und Theaterproduktionen, u.a. am Maxim Gorki Theater Berlin. Zudem ist sie als Regisseurin und Dramatikerin tätig, von «Theater heute» wurde sie als beste Nachwuchsregisseurin 2017 ausgezeichnet. Im Zürcher Theater Neumarkt hat sie ihr Stück «Café Populaire» inszeniert, das 2019 an mehrere Festivals, u.a. ans Schweizer Theatertreffen, eingeladen wurde. Sie lebt in München.