Rund um die Jahrtausendwende hat mein Vater im Bus eine Frau beim Telefonieren erwischt. Sie war offensichtlich im Besitz eines entsprechenden Geräts, hatte aber nicht den Anstand, damit in einer Kabine oder in den eigenen vier Wänden zu telefonieren. Sie tat es im 12er-Bus und im Feierabendverkehr. Mein Vater wies sie zurecht. Er und die anderen Fahrgäste interessierten sich nicht für ihr Privatleben.
Tschuldigung, habe die Frau ins Telefon geraunt, einer macht mich blöd an.
Das ist ein Bus, sagte sie zu ihm. Wir sind im öffentlichen Verkehr.
Genau darum. Mein Vater bestand auf Anstand, Rücksicht, sie bestand auf seinen Konservatismus, und bei der nächsten Haltestelle stieg eine von ihnen trotzig aus. Wer, ist mir nicht in Erinnerung. Vater jedenfalls brodelte zwei Stunden später immer noch, bei Café complet. Er schnitt Käse und schimpfte.
Es dauerte nicht lange, da hatte er selbst so ein Teil, mit dem er die anderen im Bus hätte nerven können. Es war das erste Endgerät, das ich überhaupt in echt sah, und so wurde mein Vater für mich ein Pionier, was Handys anbelangt. Er brachte es in einem Karton nach Hause und wickelte es vor uns auf dem Küchentisch aus den genoppten Plastikschichten. Und was für eins: schwarz, glatt, glänzend. Es hatte eine fette Antenne. Flammen züngelten rund um das winzige Display. Es lag in der Hand mindestens so schwer wie ein Meerschweinchen.
Ich war fasziniert von dem Ding, mein Vater auch. Es schien seine Vorstellungskraft zu sprengen, wenn er sich überlegte, was man damit alles anfangen konnte. Als würden wir, nur einmal die richtige Knopffolge gedrückt, durch Wände sehen, den Mond herbeisaugen.
Meine technischen Geräte beliefen sich in der Zeit auf einen Kassettenrekorder und einen nigelnagelneuen CD-Player. Manchmal öffnete ich das Laufwerk, wenn die CD noch drehte. Dann war es aufgeheizt dort drin, und der Geruch nach neuem Kunststoff und CD versetzte mich in Euphorie.
Das Urhandy mit seiner Antenne blieb einige Jahre lang selten wie etwa die Vermicelles-Presse. Etwas, das man in besonderen Momenten hervorkramt. Mit dem man einen heiligen Abend feiert. Nichts, was in eine oberste Schublade oder gar auf den Nachttisch gehört. Was man gedenkt, einzupacken, wenn man in die Stadt fährt. Nichts, was einen durch die Strassen lotst und jede Sprache fliessend spricht.
Es dauerte ein paar Jahre oder ein Jahrzehnt, bis wir ohne unsere Handys nicht mehr aus dem Haus gingen. Bis wir nach zehn Metern, vorne bei der Kreuzung, stehen blieben und in unseren Jackentaschen zu wühlen begannen. Ob wir es denn auch eingepackt hatten? Nochmal zehn Jahre später würde ich mein Gerät gerne für verloren erklären.
Als müsste ich mich vor ihm retten, habe ich es an einem Vormittag verloren. Den ganzen Tag wie eine Verrückte gesucht, als hinge meine Orientierung in Zeit und Raum von meinem Samsung Galaxy S23 ab. Ich suchte in den Schubladen der Küche. Ging noch einmal den ganzen Weg zurück zum Hallenbad. Suchte in Gebüschen. Im Laub.
Was suchen Sie?, fragte man mich.
Meinen Liebling, mein Baby, meinen Tank.
Ich fand es abends im Müll zwischen Kaugummis und Schnipsel. Als ich es wieder in der Hand hielt, wurde mir kalt im Mund, und meine Finger zitterten. Ich entsperrte es, das Dopamin kickte rein.
Heute lass ich es zu Hause. Verstaue es in der Schublade der selten zu gebrauchenden Dinge. Ich weiss, ich werde mich darüber hermachen, sobald ich zurück bin, aber erstmal ist die Luft einzigartig frisch, als ich hinaustrete. Satt von Sauerstoff. Die Tasche meiner Jacke ist leicht. Die Minuten verdoppeln sich, ich bluffe nicht. Ich steige in den Bus. Wähle einen Fensterplatz und sehe gespannt hinaus.
Ich sehe die körnigen Fassaden. Sehe das Zucken eines Schals an einem Hals. Sehe in der Ferne ein Kind synkopisch über eine Brücke hüpfen. Ich sehe alles, was ich auch sonst gesehen hätte, aber ich sehe es schärfer. Hochprozentig. Als habe meine Wirklichkeit eine ihrer Schichten abgelegt. Inzwischen hat sich neben mich einer gesetzt, der an einem Onlinemeeting teilnimmt. Ich schiele auf den Bildschirm seines Handys.
Die Spitzen meiner Haare ragen in seine Live-Videoaufnahme. Ich beginne, an diesen Haaren zu zwirbeln. Übertriebene Bewegungen. Und schiebe mich Stück um Stück weiter in sein Bild.
Wie können wir sicherstellen, dass wir im Budgetrahmen bleiben?, fragt er, und eine Sekunde lang weiten sich seine Augen, in der nächsten Sekunde hat er sich mitsamt Meeting von mir abgewandt.
Werde mein Samsung austauschen gegen eins, wie du es damals hattest, schreibe ich abends meinem Vater. Mit Antenne. Ohne Kamera. Das SMS hat 160 Zeichen.
Da antwortet mein Vater: Wieso nicht gleich eine Taube?
So eine Taube, grau, weiss, vielleicht gar gescheckt. So eine Taube, die ohne Strom funktioniert. Die einen Willen hat und eine Stimme, mit der sie gurrt. Die an mein Fenster klopft. Der ich öffne. Der ich die Nachricht vom Fuss fädle, den Knoten löse, das Papier entrolle. Der Faden fällt geräuschlos zu Boden, als ich lese: Hoi, kannst du noch Salat kaufen, merci. Bis gleich.
Zur Person
Noemi Somalvico wurde 1994 in Solothurn geboren. Sie hat literarisches Schreiben in Biel und Contemporary Arts Practice in Bern studiert. Ihr Debüt «Ist hier das Jenseits, fragt Schwein» (2022) wurde mehrfach ausgezeichnet. Im Herbst 2024 ist ihr Erzählband «Das Herz wirft in der Brust keinen Schatten» (Voland & Quist) erschienen.