Checkpoint
Seine Tagesration an Brot, Gemüse und etwas Obst auf dem Arm, sah er auf dem Nachhauseweg unzählige Todesanzeigen an den Haustüren kleben. So viele Menschen waren in letzter Zeit gestorben! «Möge Gott uns beschützen», sagte er zu sich selbst.
Er ging die letzten Schritte weiter bis zu dem Haus, in dem er wohnte. Auch an seiner Tür hing eine Todesanzeige, die schon älteren Datums zu sein schien. Er blieb stehen, um sie zu lesen, und als er fertig war, stellte er verwundert fest, dass er bereits seit etwa einem Monat tot war.
Traurig drehte er sich um und kehrte zum Friedhof zurück. Er wollte noch vor Sonnenuntergang dort ankommen, denn danach wäre der Checkpoint geschlossen. Dann müsste er die ganze Nacht wachbleiben und könnte erst am nächsten Morgen zu seinem Grab zurückkehren, um zu schlafen.
Barbie
Nachdem er sich versichert hatte, dass es mir gut gehe – wir sassen im Café –, fragte er: «Wie ist es passiert?»
«Drei fehlgeleitete Mörsergranaten gingen in der Nähe des Gebäudes nieder, in dem ich wohne.»
«Und die Verluste?», fragte er.
«Ein Balkon stürzte ab, der obere Teil der Mauer des Nachbarhauses wurde zerstört, und die dritte Granate fiel auf die Strasse und hinterliess einen ziemlich tiefen Krater.»
«Gott sei Dank, dass es dir gutgeht», wiederholte mein Freund. Dann fragte er: «Hast du gehört, dass ein Kind dabei getötet wurde?»
«Ja», entgegnete ich, «ein zehnjähriges Mädchen. Aber die Kleine ist nicht durch die Granaten gestorben, sondern durch die Glassplitter.»
«Möge Gott sich ihrer erbarmen», sagte er.
Ich fuhr fort: «Aber die Folgen, unter denen ich heute leide, sind, dass meine Enkelin, die wie alle Kinder gerne zeichnet, keine Blumen mehr malt wie früher, keine Schmetterlinge und Bäume und Sonnen und keinen klaren Himmel. Wenn sie ein Bild fertiggemalt hat, hat sie es mir immer gebracht, damit ich es an die Kühlschranktür hänge.»
«Und was ist das Problem?», fragte er.
«Das, was sie heute malt, nachdem sie die heftigen Explosionen infolge der drei Mörsergranaten gehört hat. Sie war mit ihrer Mutter bei mir zu Besuch und fragte die ganze Nacht über: ‹Wer hat diese Granaten auf uns fallen lassen?›» – Ich schwieg einen Augenblick, dann fuhr ich traurig fort: «Heute malt sie nur noch zerstörte Häuser, verkohlte Bäume, auf dem Boden verstreute Leichen … Aber was mir das Herz besonders schwermacht, ist, dass die Toten, die sie malt, Kinder sind … Jungen mit einem Ball und Mädchen, die Barbiepuppen umarmen.»
Frische Luft
Ich schrieb: «Ich liebe das Leben, und ich liebe meine Enkelkinder und meine Kinder, meine Nachbarn, vom ersten bis zum siebten. Und ich liebe auch die Leute des Viertels, in dem ich wohne, und ich liebe meine Stadt Aleppo und alle Städte in Syrien, und ich liebe die Syrer, alle Syrer …»
Der Stift in meiner Hand zögerte ein wenig und bewegte sich nicht mehr so flüssig. «Es gibt Leute, die das, was du geschrieben hast, nicht gutheissen!», flüsterte er mir zu. Ich drehte mich um, sah aber niemanden. Als ich weiterschreiben wollte, schaute er mich mit ängstlichen Augen an, bevor er meinen Fingern wieder die Führung überliess: «Ich liebe es, das Fliessen des Wassers im Bach zu betrachten, ich liebe das Bücherlesen und das Musikhören und das Spielen mit den Kindern in der Sonne …»
Wieder zauderte er, dann hörte er auf zu schreiben. Ich sah ihn an und fragte: «Was ist los mit dir?» Er antwortete nicht. Ich blickte nach rechts und nach links und sah nichts Beängstigendes. «Was ist los mit dir?», fragte ich wieder. «Woher kommt die Angst, die ich in deinen Augen sehe? Siehst du Gespenster?» Er antwortete wieder nicht, aber nach einem spürbaren Zögern begann er, meinen Fingern Folge zu leisten. Doch als ich weiterschreiben wollte, hatte ich vergessen, was ich hatte sagen wollen. Ich war verärgert über den Stift. «Siehst du, jetzt habe ich wegen dir vergessen, was ich schreiben wollte!», sagte ich zu ihm. Da kam er mir zu Hilfe und meinte: «Du wolltest schreiben: ‹Und ich liebe auch einen Genera…›»
Da spürte ich einen Schlag zwischen die Augen und hielt inne. «Was wolltest du, dass ich schreibe?», fragte ich.
Nach kurzem Zögern erwiderte er, wobei er versuchte, sein Gesicht abzuwenden: «Und ich liebe auch…» Ich liess ihn nicht aussprechen, ich packte ihn mit allen zehn Fingern und brach ihn entzwei. Dann warf ich ihn in den Müll.
Ich stand vom Tisch auf und trat auf meinen kleinen Balkon, um frische Luft zu schnappen. Ich schaute in den blauen Himmel, dann schrieb ich mit einem neuen Stift weiter.
Nachwort vom Autor (Auszug)
Das Schreiben über diesen Krieg ist schmerzhaft, sehr schmerzhaft.
(…)
Manchmal schliesse ich die Augen und traue mich nicht, sie wieder zu öffnen. Denn öffnete ich sie, sähe ich eine Zerstörung, die ohnegleichen ist. Zerstörte Häuser und Gebäude, zerstörte Geschäfte und Märkte, zerstörte Strassen und Brücken, zerstörte Kirchen und Moscheen – geschlossenen Auges gehe ich weiter, um wieder zu sehen, was ich in meiner Fantasie sah, als Aleppo noch in seiner vollen klassischen Schönheit stand. Um die Kinder auf ihrem Schulweg zu sehen. Um die Männer zu beobachten, die nach einem langen Arbeitstag mit dem täglichen Brot für ihre Familien nach Hause kommen.
(…)
Zum Schluss wünschte ich mir, dass dieser bis heute andauernde Krieg endet. Ich wünsche mir, dass jeder Syrer in seine Heimat zurückkehrt, in seine Stadt, in sein Dorf, sein Haus. Dass die Syrer ihr Land wieder aufbauen. Dass sie Gräber ausheben, um ihre Toten angemessen zu bestatten, die Toten beider Seiten des Konflikts, und dass sie vor jedem Grab eine hochaufragende Zypresse pflanzen und diese mit einem Blumenbeet umgeben. Und dass der Frieden Einzug hält.
Niroz Malek
Der syrische Schriftsteller Niroz Malek wurde 1946 in Aleppo geboren, wo er heute trotz Kriegswirren noch lebt. Er hat bislang acht Erzählbände und sechs Romane veröffentlicht. Die hier vorliegenden Texte stammen aus dem Buch «Der Spaziergänger von Aleppo». Darin schreibt er in 57 Miniaturen vom Alltag und vom (Über-)Leben in seiner Heimatstadt.
Die meisten dieser Texte hat der Autor zuvor auf Facebook gepostet.
Buch
Niroz Malek
«Der Spaziergänger von Aleppo»
144 Seiten
Aus dem Arabischen von Larissa Bender
(Weidle 2017).