«Sie können mich mit Ihren Fragen jederzeit zum Schweigen bringen.» Wer mit Nikolaus Harnoncourt zu tun hatte, erhielt klare Signale – ob Musiker oder Journalist. Keine Augen dieser Welt erzählten so ehrlich von Himmel und Hölle.
Meine Angst damals im Frühling 2008 vor einem Interview war unbegründet. Trotz der Ermahnung gleich zu Beginn, redete er alsbald leidenschaftlich und ehrlich. Seine Frau Alice sass strickend im Nebenzimmer. Sie hatte – so zeigte zum Schluss ihre Bemerkung «Das war sehr interessant» – alles mitgehört, um nicht zu sagen, liebevoll überwacht.
1948 hatte Harnoncourt seine Frau als 19-Jähriger in Wien kennengelernt. «Sie gehörte damals bereits zur Aristokratie der Musikhochschule, ich hingegen war ein dahergelaufener Cellist», sagte Harnoncourt.
Immerhin war der Dahergelaufene, dieser Johannes Nikolaus de la Fontaine und d’Harnoncourt-Unverzagt, ein habsburgisch-lothringisch-luxemburgischer Graf. Die beiden heirateten, und das noble Paar lebte seit 1952 von Harnoncourts Orchesterjob bei den Wiener Symphonikern.
Ein grosser Idealist
Neben dieser Arbeit hielt Harnoncourt aber «schwarze Messen»: Er studierte nächtelang die Quellen sogenannt «Alter Musik» und gründete mit Freunden 1953 das Spezialistenensemble Concentus Musicus Wien. Dort wurden auf nachgebauten Originalinstrumenten die Werke von Claudio Monteverdi und Johann Sebastian Bach völlig neu interpretiert. Ein riesiger Idealismus steckte hinter dieser Arbeit. «Bei unseren Konzerten haben wir jahrelang die Plakate selbst bezahlt, die Sessel, die in den Saal gestellt wurden, selbst gemietet. Keiner der Mitwirkenden fragte, was er verdient. Interessanterweise hatten wir sehr schnell Erfolg.»
In zwei Welten daheim
Harnoncourt arbeitete lange in zwei Welten. «Am Morgen bei den Symphonikern spielten wir genau das Gegenteil von dem, was wir am Abend beim Concentus machten. Das war eine totale Persönlichkeitsspaltung.»
1968 setzte er sich hin und schrieb eine Kurzgeschichte über die Matthäuspassion. «Warum stürzt der Saal nicht ein, ob des Schrecklichen, was da passiert?», notierte er, «ich schrieb mir alles von der Seele».
Nikolaus Harnoncourt war das Spiel auf modernen Instrumenten und die Vernachlässigung der historischen Quellen unerträglich geworden. Mozarts g-Moll-Sinfonie, ziemlich sicher mit Dirigent Karl Böhm, sorgte für den Rest. Er erzählte es damals, rund 40 Jahre später, mit leuchtenden Augen: «Ich sitze als Cellist mit dem Gesicht zum Publikum. Wir beginnen, und das ganze Publikum lächelt, wiegt sich sogar etwas im Takt. Ich fragte mich, ob die nicht wissen, was sie da hören! g-Moll! Da wird von Tod und Schrecken erzählt. Die Leute aber glaubten, da werde etwas Nettes und Liebes gesagt.»
1969 gab Harnoncourt die sichere Orchesterstelle auf, brach aus seinem bürgerlichen Leben aus und gestand: «Ich hatte das Gefühl, dass ich mein Leben für etwas verschwende.» Seine Frau unterstützte ihn und wollte ihrem Mann die neue Freiheit ermöglichen: «Sie hätte sich notfalls für eine Orchesterstelle beworben.» So weit kam es nicht. Die historische Aufführungspraxis wurde auch dank Harnoncourt populär, der Concentus Musicus bewundert. Alice spielte, etwa im Zürcher Opernorchester, so oft wie möglich mit, wenn ihr Mann am Pult stand.
Nikolaus Harnoncourt wurde zu einem Star der Klassikszene. Trotzdem erklärte er seine Konzepte nach wie vor so heftig, dass es fast schon nach Absolutismus tönte. Und er akzeptierte nicht, dass evidente Fehler anderer Dirigenten als Interpretationsweisen angesehen werden. «Wenn ich erkenne, dass etwas falsch ist, muss ich es ausmerzen.» Aber als Kampf gegen den «Apparat» wollte er seine Arbeit nicht verstanden wissen. «Wir haben nie gegen etwas gekämpft, sondern wir waren für etwas.»
Der Komponist zählt
Das Erstaunlichste: Immer wieder begann er mit Mozart, Monteverdi oder Beethoven von vorne. «Ich würde mich schämen, wenn ich in zehn Jahren nochmals genau dasselbe machen würde und mich nicht entwickelt, nichts Neues erkannt hätte. Dann wäre ich als Musikversteher und Musikdenker nicht mehr existent.»
Damals, 2008, fragte ich ihn zum Schluss: Was bleibt von einem Dirigenten? Und er antwortete: «Was heisst schon bleiben? Weil die Medien Musik aufzeichnen, bleibt etwas. Aber was war die bedeutendste Beethoven-Interpretation im 19. Jahrhundert? Ist die geblieben? Was bleibt, ist der Komponist, der schaffende Künstler. Man sollte den Interpreten nicht überschätzen.»
CD
Beethoven
Sinfonie 4 & 5 (Sony 2016).