In Italien, oberhalb der ligurischen Küste, regiert ein Schweizer Prinz – allen Ernstes. Im Jahr 1079 mit dem römischen Stadtrecht ausgestattet, ist das Fürstentum Seborga offiziell nie dem italienischen Staat beigetreten. Qua Referendum bekräftigten die 312 Einwohnerinnen und Einwohner ihre Unabhängigkeit und wählten 2010 den Tessiner Marcello Menegatto zum Princeps. Italien kümmert das wenig, und in Rom hält man die Unabhängigkeitserklärung der Seborghini kaum für erwähnenswert.
Nick Middleton erzählt im «Atlas der Länder, die es nicht gibt» Geschichten aus 50 Ländern, die man auf der Weltkarte vergeb-lich sucht. Es sind Geschichten der Sehnsucht – nach Identität und Zusammengehörigkeit, nach Freiheit und Unabhängigkeit. Oft geht es um den Hunger nach Macht, um Stolz und Eitelkeit. Die präsentierten Länder haben eine eigene Flagge, eine Regierung und (meist) territoriale Ansprüche. Doch vor allem eint sie, was sie nicht haben – die Anerkennung durch die internationale Gemeinschaft. Einige von ihnen fühlen sich in diesem Mangel so verbunden, dass sie die Organisation der nicht-repräsentierten Nationen und Völker (UNPO) gegründet haben.
Warum aber ist den Ländern die Anerkennung anderer so wichtig? In der klassischen Lehre nach dem deutschen Staatsrechtler Georg Jellinek (1851–1911) zeichnet sich ein Staat durch drei Kernelemente aus: eine ständige Bevölkerung, eine Staatsgewalt und ein klar definiertes Gebiet auf der Erdoberfläche. Für die Existenz eines Staates käme es also nicht darauf an, ob andere ihn völkerrechtlich anerkennen.
Beispiel Somaliland
Als Individuum anerkannt und wertgeschätzt zu werden, ist jedoch ein Grundbedürfnis des Menschen. Erst die Wahrnehmung durch ein spiegelndes Gegenüber stiftet Identität. So leuchtet ein, dass auch Länder – von Menschen geschaffene Konstrukte – nach Anerkennung streben. Zudem sind einzelne Staaten in Zeiten globaler Vernetzung und Digitalisierung stärker auf gute Beziehungen und den Austausch mit anderen Ländern angewiesen. Auf diese Weise wird internationale Anerkennung zunehmend zur existenziellen Notwendigkeit.
Ob und wann ein Staat ein solcher ist, steht aber in keinem allgemeingültigen Regelwerk. Daher sind die Entscheidungen nicht immer nachvollziehbar. Das zeigt sich am Beispiel von Somaliland. Die selbst ernannte Republik im Norden Somalias zählt auf einem definierten Gebiet rund 3,5 Millionen Einwohner. Sie wird seit 1991 de facto unabhängig regiert, und es geht dort weitaus friedlicher zu als im südlichen Landesteil. Dennoch anerkennen die meisten Länder Somaliland nicht als autonomen Staat. Dies wiederum erschwert internationale Entwicklungshilfe und Investitionen, so dass die Armut im Land nach wie vor gross ist.
Von Tibet bis Atlantium
Ein weiteres Beispiel ist Tibet. Auch hier sind die klassischen Kriterien für einen Staat laut Internationaler Juristenkommission seit 1913 erfüllt. Und doch wird Tibets Souveränität bis heute von den meisten Ländern nicht anerkannt. Middleton porträtiert nebst diesen prominenten Fällen unbekannte «Mikrostaaten» wie Rapa Nui im Pazifischen Ozean oder die Mini-Insel Pontinha vor Madeira. Diese ist kaum grösser als ein Einfamilienhaus und zählt nicht mehr als vier Bewohner. Aber auch alternative Gebilde finden ihren Platz. So der von einer Hippie-Kommune besetzte und anarchisch organisierte Stadtteil Christiania in Kopenhagen. Oder Atlantium, dessen Bewohner in allen Teilen der Erde leben und nur durch ihren freien Willen Staatsangehörige sind.
Der Atlas der nicht existierenden Länder wirft Fragen auf. Sind die drei klassischen Elemente hinreichende Kriterien für einen Staat? Sollte nicht auch die Art seiner Entstehung bewertet werden? Wie aussagekräftig ist das Merkmal einer ständigen Bevölkerung, wenn diese von der eigenen Regierung unterdrückt wird? Für Immanuel Kant ist ein Staat dann gerechtfertigt, wenn er dem Schutz der persönlichen Freiheitsrechte aller Individuen dient.
Vor allem aber laden die schön gestalteten Karten und spannenden Geschichten zum Träumen ein. Und sie fordern auf zum Weiterdenken mutiger Ideen. Nicht zuletzt stellt sich die generelle Frage nach Sinn und Unsinn von Nationalstaaten und ihren Grenzen.
Nick Middleton
«Altas der Länder, die es nicht gibt»
240 Seiten
Dt. Übersetzung: Edith Beleites
(Quadriga 2016).