Nicht in den Weiten Sibiriens beginnt die Geschichte, sondern in einer Grossstadt. In einer Bar – in Paris vielleicht – trifft der Leser auf Robert und die anderen Akteure des Romans. Robert, der Mann im Regenmantel, hält sich dort jeden Tag auf. «Er trinkt ein Glas Wodka, sagt etwas oder auch nicht und geht weiter.» Keiner kennt ihn. Bislang.
Die in Paris und Zürich lebende Thurgauer Autorin Eleonore Frey hat Robert zum Leben erweckt. Er hat als Schriftsteller Mischa Perm das Buch «Unterwegs nach Ochotsk» verfasst und kann seither von den Tantiemen leben. Obwohl: «Es hat sich kaum etwas verändert, seit er arm war.» Er lebt noch immer in seiner kleinen Wohnung neben einer schrulligen Nachbarin namens Theres. «Sie ist ein Schatten. Ein Schatten allerdings, der immer noch einen Schatten wirft.»
Jeder spielt seine Rolle
Sophie hingegen übernimmt einen zentralen Part in Freys Roman. Die Mutter zweier neunjähriger Zwillinge arbeitet in der Buchhandlung ihres Onkels. Am liebsten verkauft sie das Buch «Unterwegs nach Ochotsk». Sie kennt zwar den Autor (noch) nicht, doch die darin beschriebene Welt «ist nicht nur Mischa Perms Sibirien, sondern auch das, was Sophie aus ihren eigenen Einöden kennt». Otto, der Hausarzt, verkehrt wie Sophie in der Bar, wo Robert immer seinen Wodka trinkt. Und weil Otto an der Buchhändlerin interessiert ist, beschäftigt ihn das Buch, das sie so intensiv liest. Nur: Otto gibt sich nicht mit den Reiseschilderungen über Einsamkeit und sibirische Weiten zufrieden, Otto möchte diese einmalige Landschaft umgeben von Eismeer mit eigenen Augen sehen. Und meldet sich als Schiffsarzt.
Gefangene ihrer selbst
Die Menschen, welche die 1939 geborene Eleonore Frey in ihrem neuen Roman zu einem farbigen Kammerspiel zusammenfinden lässt, könnten nicht bunter sein. Doch sind sie alle isoliert und einsam, gefangen in ihren eigenen Mustern. Ein Thema, das die Autorin schon im Roman «Muster aus Hans» (2009) beschäftigte, wo sie das Leben eines Autisten entwirft.
Die Figuren in Freys Büchern ähneln meist Menschen, die der Schriftstellerin im wirklichen Leben begegnet sind, manchmal nur flüchtig. So ist der Buchautor Robert im neuen Roman ein etwas kauziger Mensch, der Frey an einen Clochard in Paris erinnerte, einen Portugiesen, einen verkommenen zwar. Man kannte sich vom Sehen, grüsste sich und wechselte ein paar Worte. Mehr nicht.
Auch wenn sich Freys Figuren im Verlaufe der Handlung einander nähern, so schafft es keiner der Akteure, auszubrechen. Alle bleiben in ihrem eigenen Ich gefangen. Ochotsk, als Ort einer unwegsamen Einöde, bleibt für jeden von ihnen unerreichbar, physisch wie psychisch. Sophie muss Robert ziehen lassen. Er hat sich verloren, er will nach Ochotsk, allein, zu Fuss – und weiss, dass er nie ankommen wird.
Eleonore Frey ist mit ihrem neuen Buch einmal mehr ein einfühlsames Werk gelungen, das den Vergleich mit einem Orchesterwerk (siehe Interview) nicht scheuen muss: Behutsam nähert sie sich ihren Figuren, überlässt ihnen ihren Part, beschreibt ihre Seelenbilder in zarten Tönen und fügt diese zu einer wunderschönen Komposition zusammen, die trotz leiser Melancholie, lebensfroh bleibt. Ein Buch, das den Leser dazu bewegt, die Schönheit der Ödnis zu suchen und den Wunsch weckt, sich ebenfalls aufzumachen – nach Ochotsk.
Eleonore Frey
«Unterwegs nach Ochotsk»
128 Seiten
(Engeler 2014).
Drei Fragen an Eleonore Frey - Ein Stück für ein Kammerorchester
kulturtipp: Wie kamen Sie auf Ochotsk?
Eleonore Frey: Ich habe im Jahr 2012 von Japan aus eine Kreuzfahrtreise ins Ochotskische Meer gemacht. Ich war sehr beeindruckt von der Gegend, die so einsam ist und für Menschen so schwer zugänglich. Das Gebiet um Ochotsk, das im 17. Jahrhundert eine Kosakensiedlung war, ist auf dem Landweg ja gar nicht erreichbar. Es gibt keine richtigen Strassen, fast keine Häuser, nur Natur. All diese Eindrücke habe ich damals in einem knappen Reisebericht festgehalten.
Und damit den Grundstein für Ihr neues Buch gelegt?
Indirekt, ja. Den Reisebericht veröffentlichte ich bereits in der österreichischen Literaturzeitschrift «Manuskripte». Passagen daraus sind auch im Roman zu finden. Allerdings wollte ich schon damals Menschen ins Zentrum stellen, die mit Ochotsk eine Verbindung haben, die isoliert, abgeschnitten von allem sind. Dass ich dabei den Handlungsort nach Europa verlegte, spielte weniger eine Rolle.
Mehrere Akteure nehmen in Ihrem Buch wichtige Rollen ein. Welche Figur tauchte in Ihren Vorstellungen zuerst auf?
Robert, der Schriftsteller, wars, der zuerst in der Bar erschien. Dann kamen nach und nach die anderen hinzu. Ich lasse mich immer führen von meinen Figuren, mache, was sie wollen. Aber mein Konzept war: Ich wollte ein Stück für ein Kammerorchester schreiben, wo jede Figur ihr eigenes Instrument spielen darf, das sich mit seinem besonderen Klang mehr oder weniger harmonisch in die kleine Kammersinfonie einfügt. Die Entstehung des Buches war also sehr musikalisch.