Alphorn- und Ländlermusik sowie Jodel gelten gemeinhin als typisch schweizerische Volksmusik. Genau besehen war sie nie alt, urtümlich und urschweizerisch. Die Ländlermusik zum Beispiel ist in den 1920er-Jahren entstanden, und erst noch in Zürich. Die Volksmusik hat sich immer gewandelt, sich angepasst und äussere Einflüsse mit einfliessen lassen.
Innovationsschub in den 1990er-Jahren
In den 1970er-Jahren kam es zu ersten «modernen» Annäherungen an die Tradition. Es wirkten Pioniere wie der Jazztrompeter Hans Kennel, der Zürcher Gitarrist Max Lässer und Noldi Alder. Letzterer stammt aus der berühmten Appenzeller Dynastie und hob sich bewusst ab vom Erbe, indem er als Hackbrettspieler, Geiger und Jodler neue Wege beschritt. Der Thurgauer Töbi Tobler erweiterte die Spielmöglichkeiten des Hackbretts.
Mitte der 1990er-Jahre erfuhr die Schweizer Volksmusik einen regelrechten Innovationsschub. Christine Lauterburg verband Jodel mit Techno. Die Band Pareglish spielte teilweise elektrifiziert und liess auch nordische Elemente in ihren Sound einfliessen. Das Duo Stimmhorn experimentierte mit Alphorn und Stimme. Der Luzerner Albin Brun pflegt so etwas wie «Worldjazz» auf Schwyzerörgeli und Saxofon.
Das Innovative zeigt sich in neuen Arrangements von traditioneller Musik, in neuen instrumentalen Zusammensetzungen, in Improvisation oder in neuen Kompositionen «im Volkston». Es sind Musiker am Werk, die das Alte entstauben und erneuern. Und die Volksmusik ist Studienfach geworden: 2005 startete die Hochschule Luzern im Departement Musik das Nachdiplomstudium Volksmusik. Inzwischen kann man einen Bachelor erlangen, Schwyzerörgeli, Hackbrett, Alphorn, Klarinette oder Geige studieren. Seit 2018 wird ein Jodel-Studiengang angeboten.
Aus dem Hochschulumfeld kommen Schwyzerörgeler wie Marcel Oetiker und Fränggi Gehrig; Adrian Würsch verbindet sein Spiel auf Akkordeon und Örgeli mit Electronica und Rock. Der Ostschweizer Christoph Pfändler kombiniert Hackbrettspiel mit Heavy Metal.
Andreas Gabriel mischt Altes mit Neuem
Zu den gegenwärtig profiliertesten Akteuren der Neuen Volksmusik gehört der Innerschweizer Andreas Gabriel (37). Er ist in einer volksmusikalischen Familie aufgewachsen. Gabriel hat klassische Violine studiert und ist danach sozusagen zu den Wurzeln zurückgekehrt. Im Quartett Helvetic Fiddlers hat er das Geigenspiel in der Volksmusik wieder aktiviert. Am Anfang habe er sich mehr als einen gesehen, der historische Aufführungspraxis betreibt, denn als einen, welcher innovativ neue Impulse setzt. «Mittlerweile suche ich mit meinen Kompositionen, die alte Volksmusik mit meiner persönlichen Ästhetik zu verschmelzen», erklärt er im Gespräch. Er tut dies heute vor allem mit seiner Hauptband, dem Trio Ambäck.
Was meint Andreas Gabriel, der selber an der Hochschule doziert, zum Volksmusik-Studium? Kann man Volksmusik lernen, und droht nicht die Gefahr der Akademisierung? Er sieht darin «nur Chancen». Die Akademisierungs-Gefahr, dass es «steif» werden könnte, erachtet er als klein, «da wir Dozenten alle sehr praxisnah arbeiten und selber nah am Konzert- und Musikleben sind». Sie würden die Studenten dazu anspornen, «ihre eigene Musiksprache zu finden».
Grundsätzlich könne man alles lernen, auch die Volksmusik. «Vielleicht verhält es sich wie bei einer Sprache. Wenn man mit 20 eine neue Sprache lernt, wird man nie die Selbstverständlichkeit einer Muttersprache erreichen.» Aber man komme nahe an sie heran.
Andreas Gabriel macht beides, er geht zu den Wurzeln und probiert Neues aus. Wohin könnte es in diesem Spannungsfeld noch führen? «Mich interessiert der Zusammenhang von technoider, elektronischer Musik mit dem Schottisch oder dem Marsch», erklärt Gabriel. «Es ist rhythmisch dasselbe. Da gibt es sicher noch Verknüpfungspunkte.» Aber auch die Improvisation könnte noch ausgeweitet werden: «Die Schweizer Volksmusik darf sich noch immer befreien. Das Schöne ist, dass es immer weiter geht und anders kommt, als man denkt.»
Geigen, Blech, Alphorn, Halszither und Sax
Bei der aktuellen Ausgabe des Alpentöne-Festivals ist Andreas Gabriel mit seiner Komposition «Verändler – eine kleine Sinfonie» für ein 10-köpfiges Ensemble beteiligt. Entstanden ist sie letztes Jahr für die Zürcher «Stubete am See». Im Spiel sind Instrumente wie Geigen, Blechbläser, Alphorn, Gitarren, Hals-
zither, Sopran- und Tenorsaxofon. Ausgangspunkt für Gabriel war eine traditionelle Büchel-Melodie – «und dann habe ich es einfach geschehen lassen», eine Auseinandersetzung und Gegenüberstellung von Überliefertem und neu Komponiertem. Gabriel verrät, dass er zu seiner original 45-minütigen Sinfonie für Alpentöne noch eine viertelstündige Ouvertüre geschrieben hat.
Verlosung Alpentöne-Tagespässe siehe Seite 4
Zeitgemässe Alpenraum-Musik
Für vier Tage wird der Urner Hauptort Altdorf zum Zentrum der alpinen Musik. In einem Selbstbeschrieb der elften Ausgabe der Veranstaltung nennt es sich «das Festival der zeitgemässen Musik aus dem Alpenraum». Auf das rein Geografische will sich das Internationale Musikfestival Alpentöne nicht beschränken. Die Grenzen sind offen, die stilistischen sowieso. Fast alles, was an Einheimischem in Sachen (Neue) Schweizer Volksmusik Rang und Namen hat, ist im Programm vertreten. Das Festival stellt sich heuer auch die Frage, inwiefern Volksmusik heute noch relevant ist und was sie leisten kann. Der Stand der Dinge ist erfahrbar an über 60 Konzerten und Veranstaltungen, bestritten auch von Gästen ennet des Gotthards und aus Österreich, Deutschland, Skandinavien, Frankreich. Für anregende Innovationen und spannende musikalische Begeg-nungen in grosser Vielfalt ist in Altdorf gesorgt.
CD
Die Neue Volksmusik
(Musiques suisses
2015)
Buch
Dieter Ringli, Johannes Rühl
Die Neue Volksmusik.
17 Porträts und eine Spurensuche in der Schweiz
360 S. (Chronos 2015)
Radio
Live vom Musikfestival Alpentöne
Sa, 17.8., 19.30–00.00 Radio SRF 2 Kultur
Festival
Internationales Musikfestival Alpentöne
Do, 15.8.–So, 18.8. Altdorf UR
www.alpentoene.ch