Der erste Auftritt von Iannis Xenakis (1922–2001) in der Musikwelt glich einem Vulkanausbruch. Über Nacht wurde er 1955 mit dem Orchesterstück «Metastasis» zu einem der führenden Komponisten des 20. Jahr-hunderts. Bis dahin war er Ingenieur und Architekt im Pariser Büro von Le Corbusier, zuvor hatte er im griechischen Widerstand gegen die deutschen und englischen Besatzer gekämpft. 1945 wurde er von einem Panzer-geschoss schwer verletzt. Er verlor ein Auge, und ein Ohr wurde geschädigt. 1946 schloss er sich im griechischen Bürgerkrieg dem kommunistischen Widerstand an. Dafür wurde er 1947 zum Tode verurteilt. Xenakis floh nach Paris. Erst 1974 wurde das Todesurteil aufgehoben.
Vom Grillenzirpen zum Maschinengedröhn
Mit Musik beschäftigte sich der 1922 in Rumänien geborene, später in Athen aufgewachsene Xenakis weitgehend autodidaktisch. In Paris wollte er beim grossen französischen Komponisten und Organisten Olivier Messiaen studieren. Doch dieser riet ihm von einer klassischen Ausbildung ab. Er solle einfach so viel Musik wie möglich hören und sich seine naive Art zu komponieren bewahren. Damit meinte er Xenakis’ Unvoreingenommenheit und Offenheit.
Das nahm sich Xenakis zu Herzen. Als 1955 in Donaueschingen seine bis heute berühmteste Komposition, das Orchesterwerk «Metastasis», uraufgeführt wurde, wirkte das wie ein Naturereignis: Da erklangen Energieströme, Klangschwärme, chaotisch verwobene Glissandi, wuchernde Tongitter. Xenakis experimentierte mit Zufallsprozessen und Wahrscheinlichkeitsrechnungen und setzte sich mit Spieltheorie auseinander. Später entwickelte er selbst komponierende Computerprogramme. Die künstliche Intelligenz, die heute in aller Munde ist, hätte Xenakis fasziniert.
Die mathematischen und physikalischen Konstruktionen seiner Werke hört man allerdings nicht, vielmehr vernimmt man Gewittertosen oder Grillenzirpen, das Summen von Insekten oder das Dröhnen von Maschinen. Mal wirkt seine Musik erratisch wie ein Fels in der Landschaft. Dann wieder scheint sie zu schweben inmitten von rauschhaften Gleittönen. Diese Schwerelosigkeit hat Xenakis auch in seiner Architektur verwirklicht: Der Philips-Pavillon mit seinen kühnen Kurven, den er für die Weltausstellung 1958 in Brüssel entworfen hat, ist eine in Beton gegossene Glissando-Komposition. Xenakis’ Musik hält einen fest, und doch kann man sich in ihr verlieren. Oder wie es Xenakis formulierte: «Sie ist ein strukturiertes Meer.»
Komponieren am Zeichentisch
Ende Mai finden zum 100. Geburtstag des Komponisten die Xenakis-Tage Zürich statt. Initiiert hat das Festival der Musikwissenschafter Peter Révai: «An Xenakis fasziniert mich seine menschliche Universalität. Ein hochgebildeter, intelligenter und sensibler Mensch. Und so inspirierend!», sagt Révai. «Ausserdem war er ein musikalisches Genie. Seine grosse Leistung ist die Versöhnung zwischen wissenschaftlichem Denken und kreativem künstlerischem Schaffen.» Peter Révai gelang es schon 1986, Xenakis an die von ihm gegründete Konzertreihe mit Computer-Musik nach Zürich zu holen. Er besuchte den Komponisten auch in Paris in seinem Forschungszentrum CEMAMu (Centre d’Etudes de Mathématique et Automatique Musicales) und in seinem Atelier. «Es war voller Bücher, es gab ein Klavier und altgriechische Skulpturen, und im Zentrum war ein Zeichentisch des Architekten, an dem er komponierte», erinnert sich Révai. «Bei all seiner Belesenheit und seinem grossen Wissen war er ein warmherziger Mensch und ganz unkompliziert. Wir sassen im Schneidersitz am Boden neben einer grossen Truhe mit seinen Partituren und schauten uns seine Kompositions-Entwürfe und Skizzen an.»
In Zürich sind Raritäten zu hören
Im Zentrum der Zürcher Xenakis-Tage steht die Gesamtaufführung der vier Streichquartette durch das Arditti-Quartett, das zwei der Quartette mit Xenakis einstudiert und uraufgeführt hat. In diesen Streichquartetten vereinen sich vier Instrumente zu einer einzigen Stimme voller Hochspannung und Intensität. Ausserdem werden Raritäten des jungen Xenakis zu hören sein: Kammermusik, die an Volksmusik erinnert. Diese Kompositionen weisen weit in Xenakis’ Vergangenheit, denn die rumänische und die griechische Volksmusik waren die erste Musik, die er als Kind gehört hat.
In einer Sonntagsmatinee erklingt Xenakis’ letzte elektronische Komposition: «Gendy3» von 1991. Hier konnte er seinen Traum vom komponierenden Automaten endlich realisieren. Der Computer kontrolliert mittels Zufallsoperationen nicht nur die Klangereignisse – also Rhythmus, Tonhöhe und Tonfolge –, sondern auch die Klangfarben. Im Vergleich zu manch heutiger computergenerierter Musik, in der die Musik keinesfalls nach Computer klingen soll, wird bei «Gendy3» nicht versteckt, dass da eine Maschine komponiert. Auch in seinem Spätwerk zeigt sich Xenakis unerschrocken, mit einer Musik voller röhrender, tutender und schränzender Klänge.
Xenakis-Tage Zürich
Sa, 28.5., 20.00 Vortragssaal Kunsthaus Zürich
So, 29.5., 11.00 Pavillon Le Corbusier Zürich
So, 29.5., 18.00 Kirche St. Peter Zürich
www.xenakistagezuerich.ch