Ein urbaner Klangspaziergang mit Halt an ausgewählten Hör- und Ruheorten. Eine Installation, die körpereigene Klänge spürbar macht. Ein Hineinhören in Zürichs Untergrund. Willkommen bei Sonic Matter, dem Festival der etwas anderen Klangerfahrungen. «Wir möchten einem möglichst breiten Verständnis von experimentel-ler und zeitgenössischer Musik Raum geben», sagt Lisa Nolte, künstlerische Festivalleiterin. «Die klassische Konzertsituation ist dafür oft nicht der passende Rahmen.»
«Turn» steht für Veränderung
Einen solchen Rahmen gaben von 1986 bis 2017 die «Tage für Neue Musik». Diese präsentierten das aktuelle Musikschaffen mit internationaler Ausstrahlung auf verschiedenen Zürcher Bühnen – aber eben formal eingezwängt. Unterstützt wurden sie von der Stadt Zürich. «Die alte Festivalformel hatte sich erschöpft», sagt der Zürcher Musikjournalist Thomas Meyer. «Die Stadt Zürich suchte deshalb eine neue Lösung und schrieb 2020 einen Wettbewerb aus.» Gewonnen hat das Projekt Sonic Matter, das nun zur ersten Festivalausgabe einer vorerst dreijährigen Pilotphase lädt.
Mit dem Motto «Turn» wolle man eine Veränderung ankündigen, sagt Lisa Nolte, habe aber auch passende Projekte programmiert. «Eine Performance des spanischen Elektronikers Francisco López etwa findet in kompletter Dunkelheit statt. Beim Hören entsteht der Eindruck, dass sich der Raum stetig verändert.» Journalist Meyer, der das zeitgenössische Musikschaffen seit Jahrzehnten beobachtet, empfiehlt das audiovisuelle Wandelkonzert «Digita», bei dem das Westschweizer Sampling-Ensem-ble Batida auf das Genfer Visuals-Kollektiv Hécatombe trifft. Entstehen soll laut den Veranstaltern «eine Art akustischer 3D-Comic, den die Ensembles wechselseitig entwickeln».
Sein Motto hat das Festival einer Komposition des Aargauers Dieter Ammann entlehnt, die vom Tonhalle-Orchester gespielt wird. «Für ‹Turn› habe ich ein formales Konzept für eine musikalische Aura entwickelt, die einer grundlegenden Veränderung unterzogen und letztlich völlig gebrochen wird», erklärt Ammann. «Genau dort, wo die Musik für die Hörer eindeutig wird, ereignet sich der ‹Turn›, ein Wendepunkt, an dem die Klanglichkeit völlig implodiert und abrupt in ein anderes Klangbild umschlägt.» Exakt solche Erfahrungen will Sonic Matter ermöglichen. «Im Grunde geht es darum, dass klingende Kunst sich mit den verschiedenen Lebensrealitäten verbindet», erklärt Lisa Nolte. Deshalb findet Sonic Matter vor allem ausserhalb von Konzerträumen statt. «Wir gehen an verschiedene Orte in und um Zürich und bieten eine Plattform, welche die Vielfalt des aktuellen Musikschaffens feiert», so Nolte.
Nebst der Tonhalle, wo Ammanns «Turn» und die Klangperformance «Ear Action» stattfinden, gastiert das Festival auf dem Toni-Areal der ZHdK, in der Alten Kaserne oder auf (und unter) der Klopstockwiese. Dort ermöglicht eine Installation von Klangkünstler Kaspar König, dass man das Gras wachsen hört. Aufwärmung bietet danach die Hör- und Videolounge «Weichekissenheisseohren» im Kunstraum Walcheturm. Das Rahmenprogramm ist aber noch weiter gefasst, auch zeitlich. Das Festival Sonic Matter ist Teil der Plattform Sonic Matter, die seit einigen Monaten bereits Musikschaffende mit Wissenschaftern zusammenbringt. «Was am Festival geschieht, soll sich weiterentwickeln können», erklärt Nolte. Musik wird dabei auch zum soziologischen, ökologischen oder kulturpolitischen Forschungsthema. Kommuniziert werden Diskussionen und Erkenntnisse mit dem bereits sendenden Sonic Matter Radio.
Festivalprogramm als Wundertüte
Eine komplexe Angelegenheit also, die sogar noch weiter verästelt ist. Besteht da nicht die Gefahr einer Überforderung des Publikums? Nolte winkt ab und betont, dass man gerade die bisherige Exklusivität des experimentellen Musikschaffens für ein breites Publikum öffnen wolle. Eine Idee, die Komponist Dieter Ammann unterstützt: «Jeder Ansatz, der die Hochkultur einem breiteren Publikum näherbringt, ist zu begrüssen. Dass dabei das Orchester nicht vergessen geht, ist richtig und wichtig.»
Experte Thomas Meyer versteht die Bedenken, relativiert sie aber auch: «Das Projekt Sonic Matter ist hochspannend und ambitiös. Auch für mich ist es eine Wundertüte.»
Sonic Matter
Do, 2.12.–So, 5.12. Diverse Orte Zürich
www.sonicmatter.ch