Obwohl Iannis Xenakis die digitalen Entwicklungen des 21. Jahrhunderts nicht mehr miterlebt hat, in seinen visionären Kompositionen kündigen sie sich schon an. 1922 wurde er in Rumänien als Kind griechischer Eltern geboren, 2001 starb er in Paris. Er war ein unermüdlicher Widerstandskämpfer – in vielen Bereichen seines Lebens.
Mathematische Formeln hörbar machen
In Athen studierte Iannis Xenakis in den 1940er-Jahren Ingenieurswissenschaft. Und kämpfte ab 1946 als Kommunist im griechischen Bürgerkrieg, den er nur durch ein Wunder überlebte. 1947 fand er als politischer Flüchtling in Paris Zuflucht. Dort traf er auf den Architekten Le Corbusier und wurde sein Assistent. Fasziniert von Le Corbusiers Konzepten, konnte Iannis Xenakis dessen Kollaboration mit der Vichy-Regierung offenbar wegstecken. Bei Gebäuden wie dem Kloster Sainte-Marie de la Tourette in der Nähe von Lyon fand Xenakis in der architektonischen Struktur eine Form von Musikalität und Rhythmus, die mit seiner eigenen Musiksprache korrespondierte.
Xenakis, der sich bis dahin autodidaktisch mit Musik beschäftigt hatte, begann Kompositionsunterricht zu nehmen. Unter anderem beim grossen französischen Organisten und Komponisten Olivier Messiaen. Dieser gab Xenakis den entscheidenden Rat: Er solle doch gar nicht erst lernen, mit Melodien, Rhythmen und Harmonien zu komponieren, sondern lieber versuchen, seine physikalischen und mathematischen Formeln und seine architektonischen Modelle, die ihn so faszinierten, umzusetzen.
Musik als flirrend-sausendes Taumeln
So begann Iannis Xenakis ab Mitte der 1950er-Jahre eine völlig eigenständige Musik zu entwickeln. Eine Musik, die sich kaum auf die damalig vorherrschenden Musiktheorien der Avantgarde berief. Vielmehr experimentierte er mit Zufallsprozessen und Wahrscheinlichkeitsrechnung, setzte sich mit Spieltheorie auseinander und entwickelte sich selbst organisierende und komponierende Com-puterprogramme. Die künstliche Intelligenz, die heute in aller Munde ist, hätte Xenakis fasziniert.
Aus der Dichte seiner intel-lektuellen Auseinandersetzung schaffte Xenakis Klangerlebnisse, die ganz unmittelbar berühren und mitreissen. Seine Kompositionen sind imposante und raue Gebilde. Mal wirken sie wie Le Corbusiers Betonbauten, mal hört man Insektenschwärme und Grillenzirpen, dann wieder Maschinendröhnen oder das Zischen elektrischer Leitungen. Und wie nur wenige andere kom-ponierte Xenakis Bewegung im Raum. Rauschhafte Glissandi, die mal in die Höhe ziehen, dann in die Tiefe stürzen oder im Kreis schwingen. Als Zuhörerin kann man diese Bewegungen physisch wahrnehmen als schwindelerregendes, flirrend-sausendes Taumeln.
Das Werk «Oophaa» mit zwei Cembalos
Interpreten stellt seine Musik aber vor grosse Herausforderungen. Es braucht oft komplizierte Kniffe und langes Knobeln, um einen Weg zu finden, seine Partituren zu realisieren. Zuweilen komponierte Iannis Xenakis auch schlicht Unspielbares. So im Falle von «Oophaa» für Cembalo und Schlagzeug von 1989. Alle seine Cembalowerke schrieb Xenakis für die legendäre, 2017 verstorbene polnische Cembalistin Elzbieta Chojnacka. Nichts war ihr zu schwierig, nichts zu schnell, für alles fand sie eine Lösung. Bei «Oophaa» allerdings musste auch sie klein beigeben. Denn Xenakis hat für dieses Stück ein das gesamte Cembalo umfassendes harmonisches Raumkonzept entworfen. Um zu spielen, was er verlangt, wären übermenschliche Riesenhände nötig. So musste selbst Elzbieta Chojnacka die Partitur arrangieren und sie herunterbrechen auf das Mass zweier Menschenhände. Allerdings mit klanglichen Einbussen bei der weiträumigen Harmonik, die sich Xenakis vorgestellt hatte.
Im Gare du Nord in Basel realisiert Jürg Henneberger, Pianist und Leiter des Ensemble Phoenix Basel, nun erstmals eine Aufführung von «Oophaa» in seiner ursprünglichen Version. Dafür nimmt er ein zweites, speziell gestimmtes Cembalo zu Hilfe, auf dem er einzelne Passagen spielen wird – die Uraufführung eines bisher noch nie so realisierten Konzepts. Und die einmalige Gelegenheit, mitzuerleben, wie eine Vision zu realem Klang wird.
Uraufführung von Heidi Baader-Nobs
Im Konzert des Ensemble Phoenix mit dem Titel «Xenakis plus» wird auch eine Uraufführung der Schweizer Komponistin Heidi Baader-Nobs zu hören sein. Sie kann 2020 ihren 80. Geburtstag feiern. Ihr freier Kompositionsstil steht für eine authentische Musik ohne Effekthascherei, die sich nicht an aktuellen Trends orientiert, sondern aus einer inneren Dringlichkeit heraus entsteht. Das zeigt auch ihr neues Werk «Ballade»: Es ist ein Septett für drei Bläser und vier Streicher. Baader-Nobs entfaltet ein raffiniertes Spiel zwischen den Instrumentengruppen – Streichquartett und Bläsertrio wechseln sich ab, zweistimmige Passagen alternieren mit solistischen Momenten. So entwickelt sich ein unabhängiges und doch aufeinander bezogenes musikalisches «Zusammenleben».
Xenakis plus – Eine Vision wird Realität
Mit dem Ensemble Phoenix Basel
Do/Fr, 20.2./21.2., 20.00 Gare du Nord Basel