«Könnten Sie das bitte wieder abstellen?!», sagte der Klavierstimmer freundlich, aber bestimmt, als er ein paar Akkorde aus einem Klavierstück von Edu Haubensak hörte. Verständlich. Schliesslich will man ja, dass er das Klavier nicht verstimmt, sondern möglichst «wohltemperiert» einrichtet, also mit gleichen Abständen zwischen den Tönen. Diese Stimmung der Tasteninstrumente hat sich längst etabliert: Die Intervalle klingen so gegenüber einer reinen Intonation zwar ganz leicht falsch, das Ohr kann aber abstrahieren. Und schliesslich hat uns dieses höchst praktikable System 300 Jahre lang wunderbare Musik beschert.
Bloss: In Stein gemeisselt ist es deswegen nicht. Die Kritik ist nie wirklich verstummt. Vor allem die Streicher beklagten sich beim Zusammenspiel über die Unreinheiten des Klavierklangs. Ausserdem schränkte es bald auch die musikalische Entfaltung ein. Verbirgt sich zwischen den Halbtönen nicht eine ganze Welt?
Schon die deutsche Komponistin Johanna Kinkel rief um 1850 aus: «Emanzipiert die Vierteltöne, so habt ihr eine neue Tonwelt!» Und der italienische Pianist, Komponist und Dirigent Ferruccio Busoni stellte 1907 fest, der Drittelton stehe schon vor der Tür. Allzu lange blieb diese Mikrotonalität ein paar Eigenbrötlern vorbehalten. Der Mainstream der Neoklassizisten und Zwölftöner kümmerte sich wenig darum. Erst ab den 1960er-Jahren begannen sich die Komponisten intensiver damit zu beschäftigen, was zwischen den wohltemperierten Tönen steckt: Drittel-, Viertel- Sechstel-, gar Zwölfteltöne oder ein Obertonspektrum, ausserdem exotische Tonleitern oder mikrotonale Verzierungen. Die Möglichkeiten sind unbegrenzt – und für manchen wohl auch etwas beängstigend. Es genügt denn auch nicht, ein bisschen zu vierteltöneln. Man muss sich eingehender mit den Eigenheiten dieser Kleinstintervalle beschäftigen.
Zehn unterschiedlich gestimmte Flügel
Einer der wichtigsten Musiker in diesem Bereich ist der 66-jährige Zürcher Komponist Edu Haubensak. Seit den 1980er-Jahren hat er die Tonwelt erforscht, auf der Gitarre etwa oder im Streichorchester, auf dem Horn, dem Vibrafon, auch in diversen Instrumentalensembles – und vor allem in einem Klavierzyklus. Diese «Grosse Stimmung I–X», entstanden seit 1989, wurde kürzlich beim Festival Wien Modern erstmals integral aufgeführt, Auszüge davon sendet nun Radio SRF 2 Kultur. Zehn unterschiedlich gestimmte Flügel standen in Wien auf dem Podium. Praktisch ist das nicht gerade, weil ein derart verstimmtes oder «skordiertes» Instrument nur gerade für ein Stück taugt. Faszinierend ist gleichwohl, was dadurch möglich ist. Der eigentliche Held dabei, so Haubensak, sei der Klavierstimmer Urs Bachmann aus dem zürcherischen Wetzikon. Er berät den Komponisten und richtet die Instrumente jeweils minutiös ein, und er besänftigt notfalls auch jene Berufskollegen, die fürchten, der Flügel gehe bei einer solchen Skordatur kaputt. Nichts davon! Nach seinen Instruktionen sind sie jeweils begeistert von den neuen Möglichkeiten, die sich ergeben.
Einige davon sind schon gewöhnungsbedürftig. Frühere Vierteltonkomponisten verwendeten jeweils zwei gegeneinander verstimmte Flügel. Haubensak aber verändert die 88 Töne «nur» eines Flügels, das aber jedes Mal anders. Je nach System verändert sich der Klangcharakter. Eine fast schon erprobte Methode ist zum Beispiel die der «Just Intonation», bei der nur reine Intervalle verwendet werden. Wenn die Töne so als Obertöne eines Grundtons gestimmt werden, beginnt der Flügel auf intensive Weise zu vibrieren. Der US-Amerikaner La Monta Young hat das seit den 1960er-Jahren in seinem «The Well-Tuned Piano» entwickelt, und auch Haubensak hat im neunten Stück seines Zyklus diese Stimmung eingesetzt.
Aber das ist nur eine Möglichkeit. Man kann auch alle Töne einer Oktave wild, also ohne System, verstimmen oder gleich alle 88 Töne der Klaviatur. Daraus ergeben sich ständig wechselnde Intervalle und so ein ungemein abwechslungsreiches Tonfeld voll unerwarteter Akkorde.
Stationen einer langen Forschungsreise
Schliesslich aber – und das ist wohl Haubensaks genuinste Erfindung – kann man die drei Saiten, die in dem Flügel jeweils einen Ton bilden, gegeneinander verstimmen. Drückt man dann eine Taste, erklingen so drei sehr nahe beieinanderliegende Töne, die kaum zu unterscheiden sind. Eine schummrige Klangwolke entsteht. In Stücken wie «Spazio» und «Halo» hat Haubensak diese Klangwelt erforscht – und das sind vielleicht die ungewöhnlichsten und faszinierendsten Stücke des Zyklus geworden. Seine Hits, wie er selber sagt.
Wenn Urs Bachmann eine neue Stimmung eingerichtet hat, beginnt Edu Haubensak jeweils, damit zu spielen, sie auszuhorchen und ihre Besonderheiten zu entdecken. «Dann gibt es aber doch einen Punkt, wo ich es genauer wissen will, zum Notenpapier greife und mit diesen Klängen, die ich nun über ein, zwei Monate verinnerlicht habe, zu komponieren beginne», sagt er. Allmählich entwickelt sich so etwas Charakteristisches. Jedes Mal muss sich Haubensak, trotz allen Erfahrungen, auf etwas Neues einlassen. Er ist ein Pionier. Die Offenheit gefällt ihm. «Am schönsten wäre es», so der Komponist, «wenn überall auf der Welt verschiedene Stimmungen entstünden.»
Edu Haubensak auf Radio SRF 2 Kultur
Musik unserer Zeit: Ein Porträt des Komponisten und seines Klavierzyklus
Mi, 13.1., 20.00
Neue Musik im Konzert:
Ausschnitte aus dem Zyklus «Grosse Stimmung I–X»
Mi, 13.1., 21.00
Das ganze Konzert aus Wien ist ab Mi, 13.1., für 30 Tage abrufbar: www.srf.ch/audio/neue-musik-im-konzert
Konzert mit Werken von Edu Haubensak
Fr, 29.1., 19.00
Kulturhaus Helferei Zürich
www.kulturhaus-helferei.ch