Es lässt sich nur schwer erklären, was genau das Charisma eines Menschen ausmacht. Mit gutem Aussehen hat das nicht zwingend etwas zu tun. Mit selbstsicherem Auftreten schon. Und mit Ausstrahlung? Nun, Irene Staub sah gut aus und trat erst noch selbstsicher auf. Sie muss also Charisma besessen haben. Immerhin war sie Lady Shiva – eine Ikone der 1970er und 1980er.
Richtig abheben wird ihre Karriere nie
Staub arbeitete als Prostituierte im Niederdorf, modelte für ein Schweizer Modelabel, wurde von Rockstars wie Mick Jagger umworben und von Franz Gertsch und Sigmar Polke gemalt. Als sie 1989 mit gerade einmal 37 Jahren bei einem Verkehrsunfall in Thailand starb, wurde sie endgültig zum Mythos. Die Schweizer Regisseurin Gabriel Baur drehte mit dem Dokfilm «Glow» 2017 eine Hommage an Irene Staub, die nun als DVD herauskommt. Baur arbeitet mit zuvor unveröffentlichtem Archivmaterial und lässt ehemalige Wegbegleiter zu Wort kommen – die Modedesignerin Ursula Rodel, Yello-Musiker Boris Blank oder Theatermacher Federico Emanuel Pfaffen.
Baur zeigt uns Irene Staub vor allem als eine Suchende, eine Hadernde. Sie tritt in Experimentalfilmen auf, singt für die Zürcher Untergrund-Punk-Band Dressed up Animals, arbeitet dazwischen aber auch immer wieder als Domina. In Interview-Sequenzen spricht sie davon, wie sehr sie das «Prostituierten-Klischee» störe, wie gerne sie einfach Musik machen würde – «das Intensivste, was man machen kann». Richtig abheben wird ihre Karriere nie.
Das erstaunt einigermassen, zeigt der Film doch: Wer nicht in Staub verliebt war, wollte ihr zumindest helfen. Ihre enge Vertraute Ursula Rodel leistet ihr Anschubhilfe. Die Filmschauspielerin Catherine Deneuve ebenfalls. «Dieser Frau wäre die Welt zu Füssen gelegen», sagt Rodel einmal. Doch Staub hat Probleme mit Drogen, mit ihren Hemmungen. Immer wieder lässt sie Treffen verstreichen, die ihr Rodel im Ausland organisiert. Dem italienischen Regisseur Federico Fellini hingegen ist sie zu intensiv: «Eine, die so glüht, wird nicht alt.»
Zürichs Marilyn Monroe – Muse und Macherin
Ausgerechnet dieses Glühen vermag «Glow» aber nicht rüberzubringen. Für die Zuschauer bleibt die Zürcher Ikone blass. Boris Blank spricht von ihrem Talent als Sängerin, Federico Emanuel Pfaffen von ihrer tiefgründigen Seite – weder die eine noch die andere Qualität können die Originalaufnahmen aus den 1980ern belegen. Anderes wirft vor allem Fragen auf. Woher kam diese junge Frau? Weshalb war sie so zornig, wie Ursula Rodel andeutet? War die Prostitution für sie wirklich dieses grosse Spiel, als das es dargestellt wird? So ist «Glow» dann am stärksten, wenn der Dokfilm das Zürich der späten 1970er und frühen 1980er aufleben lässt. Wenn Videoaufnahmen aus der Roten Fabrik und Ursula Rodels Notizhefte, Modezeichnungen und Polaroid-Fotos die Experimentierräume und den Pioniergeist von damals zeigen. Irene Staub, Zürichs Marilyn Monroe, war zweifelsohne ein Teil von all dem – als Muse und Macherin. Ihre Anziehungskraft auf Menschen bleibt vielleicht die grösste Faszination.
DVD
Glow
Regie: Gabriel Baur
CH 2017
100 Minuten
Erhältlich ab Mi, 24.6.
(Cineworx 2020)