Das fängt ja gut an: «‹Ich hasse sie, ich hasse sie, ich hasse sie›, sagte ich. Nicht voller Wut. Voller Wahrheit. Wut hatte ich hinter mir gelassen. Meistens zumindest. Nun sprach ich nur noch aus, was sowieso alle dachten. Klar und ruhig, laut und deutlich, ohne Wenn, ohne Aber: Ich hasste meine Mutter.» Die Ich-Erzählerin Thene wird manch bittere Wahrheit formulieren über ihre Mutter, ihre gestörte Familie, über Land und Leute. Eindeutig konstatiert die Erzählerin: «Es gibt Menschen, die liebt man, aber man kann sie nicht leiden. Menschen, mit denen man auf immer verbunden ist, mit denen man aber um Gottes willen nicht in einem Raum sein möchte.»
Thene, 25, studiert in Oxford und soll gerade ihren Master erhalten. Zur Abschlussfeier begibt sich ein schöner Teil der Familie nach England, wo es zur grossen Katastrophe kommt. Bereits auf Seite 60 stirbt die Mutter, die gehasste und geliebte Mutter Astrid. Eine nonkonformistische Egozentrikerin, ein Punk um die 50, eine Chaotin und Wohltäterin, im Berufsleben Werberin («Und wer nichts wird, der wirbt»). So viel Lob hat Thene für ihr Universitätsland übrig: «Zum Studieren ist England super, aber wer will, dass ein Fenster schliesst, eine Heizung heizt oder man beim Duschen nass wird, sollte in Deutschland bleiben.»
Jeder und jede auf seine eigene Art meschugge
Thene ist in Patchwork-Verhältnissen aufgewachsen, die Mutter zeugte mit zwei Männern noch zwei weitere Kinder, Thenes Halbgeschwister. Ihr leiblicher Vater Georg arbeitet als Kulturredaktor beim Fernsehen, hatte die Familie verlassen und sich lange Zeit nicht mehr gemeldet. Inzwischen lebt er mit einem Mann zusammen. Und da sind noch die Grosseltern. Die Familie ist jüdisch und stammt aus dem deutschen Osten. Thene ist kurz vor der Wende geboren.
Nach dem Tod von Mutter Astrid zeigt sich die Verwandtschaft als eine Familie am Rande des Nervenzusammenbruchs. In ihrer «Trauerarbeit» blickt Thene den Lebenskatastrophen ins Angesicht. Sie beschreibt, analysiert, kommentiert, mit scharfem Ton und intelligentem Witz. Die junge Frau erkennt: «Der Vorteil einer beschissenen Kindheit ist, dass man lernt, routiniert mit Katastrophen umzugehen.» Jeder und jede scheinen auf eigene Art meschugge. Thenes Halbbruder Elijah, 15-jährig, fragt einmal: «Warum sind eigentlich alle in unserer Familie bekloppt?» – Bekloppt, und am Ende alle tot.
Nele Pollatschek gibt mit «Das Unglück anderer Leute» einen fulminanten Einstand als Autorin eines traurig-komischen Familien- und Generationenromans. Ihre Erzählfigur Thene trägt übrigens deutlich autobiografische Züge, beide sind 1988 in Ostberlin geboren und haben ein Studium in Oxford hinter sich.
Gleichzeitig mit dem Roman erscheint das Hörbuch als ungekürzte Lesung: Schauspielerin Jasna Fritzi Bauer, im Alter der Roman-Protagonistin, führt vielstimmig furios durch fünfeinhalb irre Stunden voller Katastrophengeschichten einer schrecklich netten Familie.
Buch
Nele Pollatschek
«Das Unglück anderer Leute»
224 Seiten
(Galiani Berlin 2016).
Hörbuch
Nele Pollatschek
«Das Unglück anderer Leute»
Ungekürzte Lesung mit Jasna Fritzi Bauer
4 CDs, 326 Minuten
(Tacheles! 2016).