In der Nacht träume ich, ich hätte eine Prüfung in Pflanzenkunde zu bestehen, vorne beim Blumenfeld. Es gibt dort nicht nur Blumen, sondern auch Kräuter, Schilfarten und verschiedene Gräser. Ich weiss, dass ich keine Chance habe, ich habe einfach nicht genug gelernt. Die einzigen Pflanzen, die ich kenne, sind Schafgarbe und Hahnenfuss. Der junge Mann, der vor mir an der Reihe ist, kann alles beantworten, und ich versuche krampfhaft, mir seine Antworten einzuprägen, in der Hoffnung, die Expertin werde mir ähnliche Fragen stellen.
Bevor ich dran bin, wache ich auf. Ich muss an einen Freund denken, der mir erzählt hat, wie er nach einer Operation aufwacht und merkt, dass gar niemand da ist, der ihn beobachtet. Niemand schaut ihm dabei zu, wie er sein Leben lebt. Niemand betrachtet und bewertet seine Taten und Erfolge. Vor Erleichterung beginnt er zu weinen. Schon als Kind im Schulzimmer dachte er, dass seine Eltern ihn heimlich beobachten, dass er sich für sie anstrengen muss. Später beobachteten ihn andere, irgendjemand fand sich immer.
Beim Frühstück will meine Tochter von ihrem Vater wissen, weshalb er keine Geländewagen mag. Er vergleicht sie mit den Mountainbikes der Schüler, die er an den verschiedenen Schulen sieht. Fette Pneus mit Noppen, aber keine Schutzbleche. Macht einfach keinen Sinn für einen Schulweg auf der Teerstrasse bei jedem Wetter. Die Tochter seufzt und fragt, wie es denn später einmal ist, wenn sie selbst ein Haus, ein Auto und eine Familie hat und dabei alles anders machen wird als ihre Eltern. Wenn sie zum Beispiel einen Geländewagen fahren und für eine Woche weit weg in die Ferien fliegen wird? Irgendetwas in ihrem Gesicht sieht dabei sehr verletzlich aus, und ich möchte sie sofort in den Arm nehmen, um ihr zu versichern, dass ich alles gut finden werde, was sie macht. Aber ich tue es nicht. Ich wünsche mir, dass wir endlich verstehen, dass Übereinstimmung nicht Liebe bedeutet und Abgrenzung besonders in der Liebe gelernt werden muss.
Ich weiss auch noch nicht sehr viel darüber, in so vielem tappe ich selbst noch immer im Dunkeln, aber ich würde gerne diese Dunkelkammer beschreiben, dieses hilflose, tapfere Herumtappen, für das sich die einen eine Rüstung bauen und aus dem die anderen versuchen, so schnell wie möglich wieder zu fliehen. Ich fahre mit dem Rad zur Arbeit ins Atelier. Die Luft ist klar und kalt, in der Ferne sieht man die Schneeberge, das Blumenfeld aus meinem Traum liegt noch im Winterschlaf.
Ich erinnere mich wieder, wie ich vor vielen Jahren mit einem dicken, schwarzen Filzstift This is not a test auf ein Blatt Papier geschrieben und es eingerahmt meiner Schwester zum Geburtstag geschenkt habe. Sie hat es in ihrem Yogastudio in die Umkleidekabine gehängt und später zu mir gesagt, ich würde nicht glauben, wie oft sie auf dieses Bild angesprochen werde.
Immer wieder wollten es Leute kaufen. An meiner Stelle würde sie eine Serie davon produzieren lassen. «Das unergründliche Streben der Menschen ist von düsterer Schönheit», schreibt der tschechische Dichter Petr Hruška in seinem Gedichtband «Irgendwohin nach Haus».
Es gibt Tage, an denen ich dieses unergründliche Streben vor mir sehe wie eine Galaxie, die sich ausdehnen will, eine Verbindung von Momenten, die eine Spur hinterlässt, die davon zeugt, ein Teil dieser Welt und am Leben gewesen zu sein. An anderen Tagen scheint es mir, als wäre unser Streben ein ewig langer Tunnel, der uns suggeriert, es gäbe etwas zu erreichen, wenn wir uns nur genug anstrengen, können wir den Test bestehen.
Am Mittag bringe ich Rauchwürste und Blumen in die Alterssiedlung. Eine Freundin von mir ist kurz vor ihrem 80. Geburtstag dorthin gezogen. Sie habe sich für Gelassenheit entschieden, sagt sie, sie müsse jetzt nicht mehr alles allein können.
Nach dem Essen gibt es ihren Lieblingstee und Gebäck aus der Gefriertruhe, und ich darf mich auf meinen Stammplatz setzen, von wo man die Vögel im kleinen Innenhof gut dabei beobachten kann, wie sie sich um die Brotkrumen streiten, die meine Freundin extra für sie ausstreut. Ich bitte sie, mir noch etwas mehr zu erzählen. Ihr Radius sei kleiner geworden, sagt sie, aber nicht weniger wirksam.
Ihr Glück, zum Beispiel, beginne morgens, wenn sie beim Müsliessen auf eine Walnuss beisst. Das sei so herrlich! Zu entdecken, wie anders die Walnuss schmeckt als die Mandel. Sie nickt mir zu: Weisst du, wie schön es ist, eine Walnuss zu zerbeissen? Als ich zurück ins Atelier komme, ist meine Kollegin dabei, ein Gipsmodell zu vergolden. Wir halten beide den Atem an, weil die Goldplättchen so dünn sind, dass jede falsche Bewegung, jeder zu starke Atemzug sie wegwehen würde. Man darf sie auch nicht direkt berühren, sonst zerstört man das Gold. Also elektrisiert meine Kollegin den Pinsel und wirft das Gold an. Die grosse Kunst ist es, dabei die Plättchen nicht zu zerknittern, und das kriegt sie ganz gut hin. Ich denke, dass alles, was mit Blattgold überzogen wird, nicht real aussieht.
Das Licht fällt gleichmässig darauf, es schimmert nicht an erhöhten Stellen und wirkt an überschatteten Stellen nicht dunkler. Es will uns nicht auf das hinweisen, was ist, sondern durch Perfektion zeigen, was es anzustreben gilt. Gegen Abend fängt es an zu schneien. Neben unserem Haus haben die Kinder der Nachbarn eine Schneerutschbahn gebaut. Ich höre ihre glücklichen Schreie durch das geschlossene Fenster.
Etwas weiter weg stehen ein paar Schafe dicht aneinander gedrängt unter dem Birnbaum im schwindenden Licht. Ich spüre deutlich, wie alles aus allem hervorgeht: die Sprache, in der wir zu uns sprechen, der Druck, den wir uns machen, die Widersprüchlichkeiten, in denen wir leben, unser schönes, düsteres Streben. Ich blicke zu den Schafen hoch. Sie stehen noch immer dicht beieinander, mit ihren Beinen stossen sie ruckartig Brocken von Schnee weg. Ab und zu schüttelt ein Tier den Kopf. Ich öffne das Fenster und suche den Horizont.
Nathalie Schmid
Nathalie Schmid wurde 1974 in Aarau geboren. Sie hat eine Bergbauernschule besucht und anschliessend Deutsche Literatur am Institut Leipzig mit Hauptfach Lyrik studiert. Sie ist als freie Autorin tätig und arbeitet im Bereich der Erwachsenenbildung zum Thema kreatives Schreiben. Sie hat Lyrikbände veröffentlicht, und kürzlich ist ihr Romandebüt «Lass es gut sein» im Geparden-Verlag erschienen. Nathalie Schmid lebt mit ihrer Familie im aargauischen Baden.
Lesungen www.naschmid.ch