Menschenleer ist die Yacht, als sie im Hafen von Reykjavik unkontrolliert gegen einen Landungssteg kracht. Ein Schock für die Grosseltern und ihr zweijähriges Enkelkind, die spätabends am Quai vergebens auf den Rest der Familie warten. Die Anwältin Dora Gudmundsdottir nimmt sich dem Fall an: Sie kümmert sich um Formalitäten wie Lebensversicherung und Vormundschaft für ihre Enkelin. In Zusammenarbeit mit der Polizei versucht sie herauszufinden, was mit dem Kapitän, den beiden Steuermännern und der vierköpfigen Familie auf dem Schiff geschehen ist. Der letzte Hoffnungsfunke, dass sich eine harmlose Erklärung für das mysteriöse Verschwinden finden lässt, ist bald erloschen: Eine Leiche wird an Land geschwemmt – beim Toten handelt es sich um einen der Steuermänner, der offensichtlich nicht im Wasser umgekommen ist. Was ist passiert an Bord des Geisterschiffs?
Puzzleteil für Puzzleteil
Die isländische Schriftstellerin Yrsa Sigurdardottir versteht es, die Spannung bis zur allerletzten Seite aufrechtzuerhalten. Puzzleteil für Puzzleteil trägt sie zusammen, um das Schicksal der Schiffsbesatzung aufzuklären. Yrsa Sigurdardottir wählt dazu einen gelungenen dramaturgischen Kniff, indem sie aus zwei Perspektiven berichtet: Die Ermittlungen der Anwältin Dora wechseln sich ab mit den vergangenen Erlebnissen der Familie auf der Yacht, sodass die Leser nah dran sind am Geschehen.
Schon der Start in Lissabon steht unter schlechten Vorzeichen: Der Beamte Aegir beschliesst, die konfiszierte Yacht vom europäischen Festland gleich selbst nach Island zu überführen. Es soll ein Abenteuer für ihn, seine Frau und die beiden achtjährigen Zwillingstöchter werden – nur die Jüngste haben sie in Obhut der Grosseltern an Land gelassen. An Bord sind der Kapitän und die beiden wortkargen Steuermänner, mit denen die Familie nicht ganz warm wird. Von Anfang an herrscht auf dem Boot schlechte Stimmung, und ein unbestimmtes Gefühl von Gefahr macht sich breit, sobald sich die Yacht allein auf hoher See befindet.
Mit gezielt gesetzten Anspielungen verbreitet die Autorin eine beklemmende Atmosphäre, in die sich manchmal gar Spukelemente mischen. Die unglückselige Vorgeschichte der Yacht, die einem reichen Mann und seiner viel jüngeren Gattin mit Flair für Glamour gehörte, heizt die Fantasie der Besatzung an. Sogar die Vögel meiden das Schiff. Und als in der Tiefkühltruhe eine Leiche entdeckt wird, entwickelt sich das Familien-Abenteuer endgültig zum Horror-Trip mit unbestimmtem Ausgang.
Mit Suchtpotenzial
Die 49-jährige Autorin und zweifache Mutter Yrsa Sigurdardottir wurde 1998 in Island mit ihren Kinderbüchern bekannt. Seit 2005 schreibt sie Krimis, die inzwischen in 30 Sprachen übersetzt wurden. Im Zentrum steht bereits zum sechsten Mal die sympathische, alleinerziehende Ermittlerin Dora, die sich in ihrer Anwaltskanzlei mit einer satanistisch veranlagten und ziemlich bockigen Sekretärin rumschlägt. Sigurdardottir ist nebst dem Schreiben immer noch als Ingenieurin in Reykjavik tätig. Ihre Bücher schreibt sie in der Abgeschiedenheit einer Hütte – eine schöne Inspiration für die Gruselelemente, die ihre Krimis durchziehen. Mit dem Roman «Todesschiff» ist ihr jedenfalls ein richtig gut gemachter Krimi mit Suchtpotenzial gelungen.
[Buch]
Yrsa Sigurdardottir
«Todesschiff»
Aus dem Isländischen von Tina Flecken
409 Seiten
(Fischer 2012).
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