Erzählt man jemandem, man könne Musik sehen, folgt meist die Frage nach der eingenommenen Substanz. Dabei braucht es dafür keine Drogen, sondern nur eine Übersetzung. Lilly Kahler arbeitet seit 30 Jahren als Gebärdendolmetscherin und übersetzt für den Verein Mux Konzerte, Musicals und Opern in die Gebärdensprache: von Patent Ochsner über Bligg und Sina bis zur «Oper für alle». Der kulturtipp hat sie in ihrem Büro in Zürich Oerlikon getroffen.
Kahler sitzt zwischen Konzertplänen und CD-Türmen und erklärt in ihrer zackigen Art, wie sie Musik visuell erlebbar macht. «Wir nehmen das Lied komplett auseinander», sagt sie, «analysieren jede Strophe und jedes Schlagzeugsolo». Der Blick richtet sich aber immer auf die erlebte Musik, das «Klangbild», wie Kahler es nennt. «Für das Publikum ist es nicht relevant, ob ein Klavier in C-Dur oder d-Moll spielt. Wichtig ist, was die Tonart auslöst.»
Für die Kommunikation sind die Augen wichtig
Wenn Kahler über Gebärden spricht, macht sie diese direkt vor. Sie öffnet leicht die Lippen, senkt die Augenlider auf halbe Höhe und bewegt die flache Hand in einer sanften Welle. «d-Moll ist etwas Tragendes, eher Trauriges. C-Dur ist eher so.» Sie richtet sich auf, öffnet die Augen, bewegt die Hände bestimmter. Ein Lied braucht vier bis sechs Stunden Vorbereitung, bei einem Konzert kommen da schnell 80 Stunden zusammen, ehrenamtlich.
Nur die Übersetzungseinsätze werden bezahlt – mal vom Auftraggeber, mal durch Spenden. «Die Augen sind das wichtigste Kommunikationsmittel», sagt Kahler. Damit vermittle sie die Stimmung. Im Einsatz ist aber immer der ganze Körper. Der Fuss setzt den Takt, aufgeblasene Backen übernehmen Blasinstrumente und die Hände die E-Gitarre. Den Fokus legt Kahler jeweils auf das Instrument, das für das Klangbild gerade entscheidend ist. Bei hohen Tönen gehen Kopf und Hände hoch, bei tiefen runter.
«Wir definieren für jedes Konzert den Raum, in dem wir gebärden. Das ist wichtig. Wenn ich zu Beginn schon oben bin, habe ich kein Steigerungspotenzial mehr.» Dasselbe gelte für die Lautstärke, die mit der Grösse der Gebärden angezeigt wird.
Bis die Essenz der Musik beim Publikum ankommt
Die Mux-Übersetzerinnen bereiten für jedes Konzert eine Dramaturgie vor, die sich an den musikalischen Ablauf anlehnt. Bei Musicals, von denen der Verein zum Jahreswechsel gleich drei übersetzt, komme zur textlichen und musikalischen Komponente noch eine Schwierigkeit hinzu: Es muss sofort ersichtlich sein, welche Rolle die Übersetzerin gerade gebärdet.
Kahler manifestiert das mit ihrer Körperhaltung und Blickrichtung. Viele Rollen und schnelle Wechsel seien sowohl für sie als auch für ihr Publikum herausfordernd. Nach den Konzerten holen sich die Übersetzer Rückmelkums ein. «Das Schönste ist, wenn ich merke: Die Essenz der Musik ist angekommen», sagt Kahler. So habe ein Junge nach dem «Totemügerli» am ManiMatter-Festival gesagt, er habe zwar kaum etwas verstanden, aber es sei sehr witzig gewesen. Die Nonsens-Gebärden für Franz Hohlers KauderwelschSage haben ihren Zweck erfüllt.
Auch so etwas wie einen «Augenwurm» als Pendant zum «Ohrwurm» gibt es. Kahler sagt: «In den Feedbacks wurde mir das als Intensität beschrieben, die einem nicht mehr aus dem Kopf geht.»
Der Blick auf Filme hat sich verändert
Eigentlich wollte Lilly Kahler Übersetzerin für Englisch werden: «Dafür fehlte mir aber die Matura. In der ‹Annabelle› las ich dann von der Ausbildung zur Gebärdendolmetscherin und meldete mich an.» Jetzt ist Kahler seit 30 Jahren «im Kuchen» und bildet andere im Musikdolmetschen aus.
Mit dem Kontakt zu gehörlosen Menschen habe sich auch ihr Blick auf Filme wie «Jenseits der Stille», «Verstehen Sie die Béliers?» oder den oscargekrönten «Coda» verändert. Alle drei Filme handeln von einem hörenden Mädchen in einer gehörlosen Familie. Sie hilft bei Übersetzungen, entdeckt später die Musik und will aus ihrer Rolle ausbrechen. «Ich kenne einige Gehörlose, die diese Filme für die Vermittlungsarbeit schätzen, viele stören sich aber an Klischees und daran, dass die Tochter die Übersetzungen zu ihrem Nutzen verändert.
Die Filme zeigen das als lustigen Streich an den Eltern, für Gehörlose ist es aber ein Vertrauensmissbrauch», sagt Kahler. Der US-amerikanische Film «Coda» komme bei gehörlosen Personen besser an als seine deutschen und französischen Vorlagen. Denn bei «Coda» spielen mehrere gehörlose Schauspieler mit. «Den Unterschied sieht man sofort.»
Bedeutungsverlust ist nicht zu vermeiden
Um Musik zu übersetzen, brauche es Offenheit. «Man muss die Musik in sich reinlassen, damit man sie authentisch repräsentieren kann.» Wie eine Schauspielerin, die sich in die Rolle hineingibt. Allerdings vermeidet Lilly Kahler Interpretationen und Wertungen. «Mein Ziel ist es, die gesprochene und die Gebärdensprache so nah wie möglich zusammenzubringen.»
Bedeutungsverlust sei jedoch – wie immer beim Übersetzen – nicht zu vermeiden. Kahlers Faust rotiert und schnellt vorwärts, wobei die ausgestreckten Daumen und Zeigefinger zusammenkommen. «Das bedeutet: Der Zug ist abgefahren. Der Raum zwischen Daumen und Zeigefinger symbolisiert den Zug, der in der Ferne kleiner wird. Solche Bilder gehen bei der Übersetzung in die gesprochene Sprache verloren.»
Die nächsten MusicalÜbersetzungen von Mux
Zeppelin
Sa, 30.12., 20.00
Dreispitz Kreuzlingen TG
Sister Äct
Sa, 6.1., 19.30
Maag-Halle Zürich
Lion King
So, 28.1., 13.30
Theater 11 Zürich Oerlikon
Dokumentarfilm zum Thema
Singen in Gebärdensprache
Regie: Sarah Perrig
Play Suisse