Was tun kulturaffine Menschen, wenn sie gezwungen sind, sich die Zeit zu vertreiben? Sie erzählen sich Geschichten. Der Sommer 1816 war überdurchschnittlich regnerisch und kühl. Lord Byron, seit «Childe Harold’s Pilgrimage» und noch mehr nach seinen Affären eine umstrittene Gestalt der britischen Literaturszene, wollte mit seiner Freundin Mary Shelley und seinem Leibarzt John Polidori eigentlich die Walliser Alpenwelt erkunden. Doch die drei sassen am Genfersee fest und vertrieben sich die Zeit mit dem Erfinden von Gruselgeschichten.
Mary Shelleys «Frankenstein» wurde so geboren, Byron schrieb «The Prisoner of Chillon», und Polidori liess sich durch die versammelte Lust am romantischen Gruseln zu einer Novelle mit dem Titel «The Vampyre» inspirieren. Das Buch wurde sofort ein grosser Erfolg und dank Heinrich Marschner 1828 sogar zum Sujet einer grossen romantischen Schaueroper.
Eine lesbische Vampirin, und das im Jahr 1872
Im Laufe des 19. Jahrhunderts hat sich der Vampir-Stoff als beliebtes Motiv etabliert. Wer jetzt an Bram Stoker denkt, liegt nicht falsch, aber die berühmte «Dracula»-Geschichte entstand erst 80 Jahre nach Polidoris «Vampyre».
Ein anderer Ire war da deutlich schneller, und er brachte eine reizvolle Variante in das Universum der blutsaugenden Untoten: die Geschichte einer Frau, die nicht nur unter Männern ihre Opfer sucht, sondern eine andere junge Frau betört. Eine lesbische Vampirin, und das im Jahr 1872. Carmilla heisst sie, und ihr Schöpfer ist der Dichter Sheridan Le Fanu.
Mit einschlägigen Illustrationen erschien die Novelle zuerst in einer Zeitschrift, und es gilt als erwiesen, dass Bram Stoker etliche Elemente seiner Erzählung beim Kollegen abgekupfert hat. Le Fanus Version spielt in der Steiermark. Auf dem Schloss von Lauras Vater, einem Industriellen, der mit dem Abbau von Kohle reich geworden ist, strandet eines Tages Carmilla: faszinierend, unheimlich, aber auch wunderschön. Sie zieht Laura sofort in ihren Bann, denn sie gleicht – fast wie in Wagners «Fliegendem Holländer» – der geheimnisvollen Gestalt in den verstörenden Träumen des Teenagers. Laura ist Opfer und Liebende zugleich, ein versöhnliches Ende aber nimmt die Geschichte nicht. Die Vampirin wird getötet, und Laura bleibt traumatisiert zurück.
Zwar hat Carmilla einige Spuren in der Kulturgeschichte hinterlassen, richtig Literatur- und Kinokarriere machten dann aber doch die männlichen Vampire – von Murnaus «Nosferatu» über Christopher Lees «Dracula» bis «Twilight». Erst das Exploitation-Kino der 1970er-Jahre fand wieder Gefallen am pikanten Sujet einer Frau, die von einer anderen Frau in die Brust gebissen wird. Und das Regenbogen-Zeitalter entdeckte vielschichtigere Facetten in der Beziehung zwischen Laura und Carmilla. So sind in den letzten Jahren gleich zwei Verfilmungen und eine TV-Serie entstanden.
Wer gebissen wird, gehört ewig zu ihnen
Jan Dvorák, deutscher Komponist und Librettist der Bühnenversion, die nun in Bern uraufgeführt wird, geht noch einen Schritt weiter. Nicht nur, dass er die Beziehung der beiden Frauen ambivalenter schildert, er wirft auch gleich die Frage in den Raum, ob Vampire vielleicht die besseren Menschen wären. Knoblauch oder Kreuz können sie bremsen, nur ein Holzpfahl ins Herz kann sie töten, und wer gebissen wird, gehört auf ewig zu ihnen.
Andererseits ist nicht bekannt, dass sie die Natur ausbeuten und den Planeten an den Rand des Kollapses bringen würden. Repräsentieren Vampire vielleicht eine utopische Welt im Gleichgewicht, frei von Kapitalismus und Ausbeutung?
Der 51-jährige Jan Dvorák mag Bach, aber auch die Popsongs von Björk, mit denen er ein Musiktheater gestaltet hat. 2008 gründete er die Gruppe Kommando Himmelfahrt, die sich einem utopisch-populären Musiktheater verschrieben hat. Schon einmal hat er sich in einer «Frankenstein»-Oper mit den Untoten auseinandergesetzt. Diesmal ist es keine Oper geworden, sondern eine spartenübergreifende Produktion des Berner Schauspiels und Musiktheaters.
Die Inszenierung übernimmt Roger Vontobel, seit einem Jahr Schauspieldirektor der Bühnen Bern, zudem Regisseur mit grosser Karriere an den bedeutendsten Theatern Deutschlands. Den Menschen gehört dabei die Welt des Sprechtheaters, den Vampiren diejenige der Musik und des Gesangs, wobei die Grenzen fliessend bleiben. Für Laura zum Beispiel gibt es einen Song, den Dvorák auf der Gitarre erfand «wie ein Singer-Songwriter». Daraus entwickeln sich grosse Teile der Musik bis hin zu einem sinfonischen Walzer. Jan Dvorák sagt dazu: «Ich wollte die jeweiligen Qualitäten für unsere Geschichte nutzen. Im Schauspiel schreit, weint und flüstert der Mensch. Im Operngesang dagegen bekommt die menschliche Stimme etwas fast Übernatürliches, der Mensch verwandelt sich in ein mächtiges Instrument. »
Dazu gibt es ungarische Volks- und protestantische Kirchenlieder, aber natürlich auch filmmusikalische Schauerklänge, welche die unwirkliche Atmosphäre in diesem Schloss und die geheimnisvollen Wunsch- und Traumwelten illustrieren.
Carmilla oder das Zeitalter der Vampire
Premiere: Sa, 26.11., 19.30, Stadttheater Bern
www.buehnenbern.ch