«Schlaf, Chindli, schlaf» oder «Der Mond ist aufgegangen»: Noch nach Jahrzehnten tauchen Erinnerungen auf, wenn diese Lieder erklingen. Doch die Schlaflieder aus der Kindheit sind bei erwachsenen Schlaflosen meist nicht mehr wirksam. Umso besser hilft die 8,5-Stunden-Komposition «Sleep» von Max Richter, den man auch als Ballett- und Filmsoundtrack-Komponisten kennt und dessen neustes Album «Voices» soeben erschienen ist. Sein Werk «Sleep» von 2015 nannte der britische Musiker «Manifest für eine langsamere Existenz» und liess bei der Aufführung Feldbetten aufstellen.
Perfekter Soundtrack für konzentriertes Arbeiten
Zum Mammutwerk «Sleep» ist nun eine neue App entstanden. Sie ist gratis, setzt aber einen Bezahl-Account bei Spotify oder Apple Music voraus. Die App liefert aus dem Album «Sleep» entnommene Musik für Schlaf, Meditation oder Konzentration. Man stellt einfach die gewünschte Zeit ein, und schon erklingt der perfekte Soundtrack für fokussiertes Arbeiten oder Meditieren. Im Schlafmodus spielt die App leiser werdende Musik und weckt morgens mit wunderbarer Klaviermusik. Der Selbstversuch zeigt: Die App funktioniert sehr gut zum konzentrierten Arbeiten. Beim Einschlafen hat sie sich etwas weniger bewährt, da die teils abrupten Musikwechsel den Schlafsuchenden eher dazu brachten, die WLAN-Verbindung zu checken als einzuschlummern. Ebenfalls besser für konzentriertes Arbeiten oder Meditieren geeignet als für den Schlaf ist die einstündige Kurzfassung des Albums «Sleep». Mit dieser Musik im Hintergrund merkt man gar nicht, wie die Zeit vergeht, und die To-do-Liste erledigt sich wie von Geisterhand.
Die Musik der Kurzfassung unterscheidet sich übrigens markant von der Lang-Version – sie ist «die Spitze vom Eisberg, die nur knapp über die See hinausragt», wie Richter die Unterschiede benennt.
Langsamer als ein Gletscher fliesst
Das Nonplusultra bleibt die 8,5-Stunden-Fassung. Sie kann man getrost abends beim Zubettgehen einschalten, sich hinlegen und staunen, was passiert. «Sleep» beginnt mit einer solchen Langsamkeit, dass im Vergleich dazu ein Gletscher atemberaubend schnell fliesst. Vom ersten Ton an ist die Musik minimalistisch, zauberhaft, beruhigend. Das Klavier ist so wundersam monoton, dass man sich einschlafend fragt, wann die nächste Variation kommt. Schliesslich döst man weg, und jede tatsächlich auftretende Variation könnte ebenso gut eine Täuschung des abdriftenden Bewusstseins sein.
Selbst wenn man morgens um drei kurz aufwacht, nimmt man Sekundenfetzen der Musik mit in den Schlaf und webt sie mit etwas Glück in Traumbilder ein. Am Morgen schliesslich realisiert man nicht sofort, ob man nun wegen gehörten oder geträumten Klängen aufwachte. Beim Aufsetzen des Morgenkaffees jedenfalls bleibt jede Menge Zeit, um den Rest des Œuvres zu hören. Und es bietet sich die Gelegenheit, unter den 204 Stücken den ersten Geigen-Einsatz oder den Wechsel in die Elektro-Gefilde zu suchen.
Mit dem Thema Schlaf beschäftigt sich auch das Berner Akku Quintet. Es besteht aktuell aus Manuel Pasquinelli (Drums), Michael Gilsenan (Saxofon), Markus Ischer (Gitarre), Maja Nydegger (Piano) und Andi Schnellmann (Bass). Die von Pasquinelli gegründete Band legte 2013 das Debüt «Stages of Sleep» vor, in dem sich die Musiker von Traumbildern inspirieren liessen.
«Wir alle kennen den Schlaf, und doch wissen wir so wenig darüber», sagt Manuel Pasquinelli auf Anfrage am Telefon: «Viele meiner musikalischen Ideen haben etwas Traumwandlerisches, fast Trancemässiges.» Die Kompositionen des Albums «Stages of Sleep» entstanden über einen Zeitraum von zwei Jahren. Sie heissen etwa «Falling asleep» und «Light sleep». Die Titel orientieren sich an den Schlafstadien, die man aus Somnographien, der Aufzeichnung des Schlafs im Labor, kennt.
Traumwandlerisch, fast in Trance
So ist das Stück «REM Sleep» eine wilde Komposition mit vielen Wechseln, die so intensiv sind wie die Schlafphase, in der die Augen hinter den Lidern herumsausen. Das Album endet mit «Waking up», einem rund zwölf Minuten langen, sanften Erwachen. Dass es das längste Stück des Albums ist, ist kein Zufall. «Ich finde das Aufwachen spannend. Ist man wach, träumt man noch? Oft ist das kaum zu sagen. Ich wollte die Platte auf keinen Fall mit einem Wecker enden lassen», sagt Pasquinelli.
Und wenn er selbst den Wecker stellt – nimmt er seine liebste oder seine verhassteste Musik? Pasquinellis Antwort kommt blitzschnell. «Definitiv meine Lieblingsmusik. Sonst drücke ich ja doch wieder nur den Snoozer. Zum Aufwachen will ich Musik, die mich neugierig macht.»
Einzelne Schlafphasen im Bühnenprogramm
Seit dem Debüt war die Band jährlich auf Tournee und veröffentlichte vier Alben. Auch heute wird immer mal wieder eine Schlafphase gespielt, das Album wird aber nicht mehr am Stück aufgeführt wie früher. Nach wie vor wichtig sind dem Quintett die Grundruhe und die langen musikalischen Bögen der Kompositionen. Auch Visuals sind seit «Stages of Sleep» ein fester Bestandteil der Bühnenshow. Momentan tourt das Akku Quintet mit dem Album «Depart», das es kürzlich am BeJazzSommer vorstellte.
Ob Akku Quintet oder Max Richter: Der Selbstversuch zeigt, dass beide Platten bestens als Entspannungsmusik funktionieren. Während «Stages of Sleep» und die Kurzfassung von «Sleep» zum bewussten Geniessen, Hören und Entdecken einladen, ist die Langfassung von «Sleep» formidable Schlafmusik. Beide Alben sind wunderbare Begleiter in schlafloser Zeit.
CDs
Max Richter
Sleep. bzw. From
Sleep (Kurzfassung)
(Deutsche Grammophon 2015)
Akku Quintet
Stages of Sleep
(Morpheus Records 2013)
App
Sleep – Max Richter
Für Android-/iOS-Nutzer
mit Spotify-/Apple-Music-Premium-Konto
www.maxrichtermusic.com
Konzerte: Akku Quintet
Di, 22.9., 21.00 City Pub Bern
Do, 26.11., 20.00 Bar Mokka Thun BE