Die gratis Streaming-Angebote und Twitter-Konzerte sind gut gemeint. Sie zeigen im besten Fall Solidarität, im schlechteren stammen sie aus einer Marketingabteilung. Aber es geht in diesen Wochen und Monaten um viel mehr: Kulturschaffende und Kulturinteressierte müssen zusammenhalten und dafür sorgen, dass nicht zu viele Strukturen zerstört werden. Allzu lange können wir nicht von Musikkonserven leben.
Musik öffnet Geist und Seele – und ist gesund
Ein italienischer Musikkritiker postet liebevoll jeden Tag auf Facebook einen Beitrag mit dem Titel «Verdi contro il virus» («Verdi gegen das Virus»). Und via Youtube erklingen herzzerreissende Arien und Chöre wie «Patria oppressa» («Unterdrücktes Vaterland») aus «Macbeth» oder «Coraggio, su coraggio!» («Mut, auf jetzt, nur Mut!») aus «I vespri siciliani».
Opernfreunde wissen, wo sie dieser Tage Seelenbalsam finden. Dabei trägt diese Spezies etwas nach aussen, das in jedem Menschen schlummert und das sich jeder selbst erfüllen kann – und will: die Sehnsucht nach einem Öffnen des Geistes und der Seele. Für Rationalisten sei es wiederholt: Musik verändert den Herzschlag, den Blutdruck, die Atemfrequenz und die Muskelspannung, sie beeinflusst den Hormonhaushalt und wirkt auf Nebenniere und Hypophyse: Und sie kann Schmerzen dämpfen, Stress verringern, das Gehirn anregen.
Die Italiener und Italienerinnen nutzen das zurzeit trotz allem Übel bestens aus. Normalerweise sitzen sie in den Theatern in den Palchi (den Balkonen oder den Logen) und schauen kritisch auf die Bühne. Nun, da die Bühnen geschlossen sind, machen sie ihre eigenen Wohnungsbalkone zu Bühnen, singen und spielen dort, werden zur Theatergemeinschaft.
Die Schweizer zeigten sich in den letzten Wochen als Balkonklatscher schon recht schlagkräftig. Mit dem Balkonsingen haben sie noch etwas Mühe.
«Fratelli d’Italia» versus Schweizerpsalm
Die Italiener hingegen haben klingende Trümpfe, einer der besten ist ihre Nationalhymne «Fratelli d’Italia». Darin heisst es: «Lasst uns die Reihen schliessen, / Wir sind bereit zum Tod». Solche Schlachtrufe muss dieser Tage niemand peinlich finden – schon gar nicht in italienischen Spitälern.
Das Pendant im Schweizerpsalm lautet eher kuschelnd:
«In Gewitternacht und Grauen /Lasst uns kindlich ihm vertrauen!» In der italienischen Hymne kommts noch ganz anders: «Wir wurden seit Jahrhunderten / Getreten und ausgelacht / Weil wir kein Volk sind / Weil wir geteilt sind / Es vereinige uns eine einzige / Flagge, eine Hoffnung / Auf dass wir verschmelzen.» Solche Jetzt-oder-nie-Worte braucht es aktuell leider eher als den schönen Aufruf zum Beten an die «freien Schweizer».
Auch die französische Hymne lässt das Blut in Wallung bringen. Wer muss im Kinoklassiker «Casablanca» nicht losheulen, wenn die Marseillaise die deutschen Offiziere, die «Die Wacht am Rhein» singen, zerschmettert? Grandios schauerlich ists auch, wenn Sissi und Franz Joseph I. in «Schicksalsjahre einer Kaiserin» in die Mailänder Scala treten und die Italiener die Kaiserhymne mit dem Gefangenenchor aus Verdis «Nabucco» niedersingen. «Haut ab, Habsburger», hiess das.
Die Macht des Gesangs in Krisenzeiten
Es geht um mehr als Episödchen aus alten Filmen. Die Macht des Gesangs ist auch in der Realität gross, besonders in Krisenzeiten: Im März 2011 drohte der Römer Oper der finanzielle Kollaps, Riccardo Muti aber sollte ebendiesen «Nabucco» dirigieren. Tumultartig war der Applaus nach dem berüchtigten Chor. Und nach einem «Viva Italia»-Ruf stimmte Muti der erbettelten Zugabe zu und bat das Publikum mitzusingen: aus Protest gegen die Sparübungen. «O Heimat, so schön und verloren» erklang aus 2200 Mündern.
Singen heisst zusammenstehen. Es verursacht rein physisch dieses schöne Gefühl, das wir dieser Tage nicht mehr teilen dürfen – vom psychischen Effekt ganz zu schweigen. Wie gut es uns Home-Office-Lemuren doch täte, auf den Balkon zu treten und mit den Nachbarn zu singen!
Auch ein Campari Soda wärmt die Seele auf
Doch was könnte die Schweizer über die Balkone hinweg vereinen? «Mues immer de plageti Hansli si»? «S Ramseiers wei go grase» oder «S isch mir alles eis Ding»? Vielleicht «I han es Zündhölzli azündt» von Mani Matter? Oder Hits wie «Alperose» oder «Ewigi Liäbi»?
Nicht ganz leicht, aber dank Souffleur Handy sollte ein gemeinsamer Nenner zu finden sein. Singen die Italiener den Gefangenenchor oder die Franzosen die Marseillaise, wird Musik zur Fortsetzung der Politik. Die Schweiz braucht diese Schlachtlieder zum Glück nicht. Aber vielleicht singen die Menschen in der Zürcher Langstrasse bald auch den grössten Hit von «Taxi». Denn auch ein Campari Soda und etwas Gesumme wärmen die Seele.
PS: Wer viel singt, hat eine gesunde Lunge: Singen verhilft bei chronischen Atemwegserkrankungen zu mehr Luft. Und jetzt Balkontüre auf – und los!