Was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie «West Side Story» hören? «America» oder das epische Fingerschnippen? «I Feel Pretty» oder die virilen Tanzeinlagen der New Yorker Gangs? «Maria» oder «Somewhere»? Die Hits aus Bernsteins Musical sind Allgemeingut geworden.
Jede Pfadigruppe würde sie am Lagerfeuer singen – wenn sie denn nicht so schwierig wären: Tritonus und kleine Septime als Erkennungsintervalle; schräge Cool-Jazz- Harmonien für die Jets, die Unterschicht-Einheimischen; vertrackte Rhythmen wie die ständigen Wechsel zwischen Duolen und Triolen in den Latin- Tänzen der Sharks, der eingewanderten Puerto-Ricaner.
Der 1918 geborene US-Amerikaner Leonard Bernstein hat seine grössten Hits eigentlich nicht zum Mitschunkeln geschrieben. Schon mit «On The Town» hatte er 1944 bewiesen, dass er als mächtig aufstrebender Dirigent und absolut ernst zu nehmender Komponist auch US-Musicals schreiben konnte. Musicals sollten damals in ers- ter Linie lustig sein, und mit Sicherheit verlangten sie ein Happy End.
Zugespitzte Dramatik – geschärfte Kontraste
Der Choreograf Jerome Rob- bins aber hatte ambitionierte Pläne: Ein Musical über Sha- kespeares «Romeo und Julia» schwebte ihm vor. Bernstein liess sich begeistern, als Textautor konnte Arthur Laurents gewonnen werden, für die Songtexte engagierte man den jun- gen Stephen Sondheim.
Anfangs sollte das neue Musical den Titel «East Side Story» tragen und die Rivalität von Christen und Juden in New York zum Thema haben. Bald aber wurde diese Idee als zu überholt verworfen und Shakespeares verfeindete Adelsfamilien ersetzt durch die Gangs der Jets und Sharks im Manhattan der 1950er-Jahre. Es dauerte aber noch ein paar Jahre, bis Bernstein endlich die Zeit fand, das Stück fertig zu schreiben.
Erst 1957 vollendete er die Partitur, die Premiere fand im New Yorker Winter Garden Theatre statt und wurde zum vollen Erfolg. 1961 kam die Filmversion in die Kinos: Robert Wise hat sie inszeniert und Jerome Robbins seine Choreografien hinübergerettet.
Der Streifen gewann zehn Oscars, darunter diejenigen für den besten Film und die beste Regie. Damit nimmt Jerome Robbins einen Spitzenplatz in den Oscar-Allzeit-Ranglisten ein. Der Soundtrack dazu verkaufte sich ebenso gut, wobei – wie damals üblich – nicht die Schauspieler selber sangen, sondern durch professionelle Stimmen gedoubelt wurden.
Erst 1985 traute sich Leonard Bernstein, seine erfolgreichste Musik in seiner eigenen Interpretation einzuspielen. Er wählte dafür grosse Opernstimmen: Kiri Te Kanawa und José Carreras san- gen das Liebespaar, und Marilyn Horne wurde für den Song «Somewhere» engagiert. Bernstein spitzte die Dramatik zu, schärfte die Kontraste, liess die Rhythmen mit jugendlichem Elan und voller Kraft pulsieren – unübertroffen bis heute.
«Diese Geschichte hat Jahrzehnte überdauert»
Im Dezember nun wurde in München auch eine neue Musical- Version der «West Side Story» zur Uraufführung gebracht, die durch Europa reisen wird und im Januar auch in Zürich für zwei Wochen Station macht. Sie basiert auf der seit 2003 schon auf fast allen Kontinenten gezeigten Version des Schauspielers und Regisseurs Lonny Price.
Er wird am Broadway und in Hollywood geschätzt und ist bekannt für die Regie etwa von «Sweeney Todd» mit Emma Thompson oder seine Arbeiten für die TV-Serie «Desperate Housewives». Bei der Choreografie setzt man weitgehend auf das Original von Jerome Robbins, das Julio Monge, der übrigens in Puerto Rico aufgewachsen ist, neu einstudiert hat.
Die Dekors sind neu, mit Anna Louizos wurde dafür ein grosser Name gewonnen. «Wir haben die Geschichte nicht auf den Mond ins Jahr 2040 versetzt», witzelt Lonny Price über die Neuproduktion. «Sie spielt in der Zeit, in der sie ursprünglich intendiert war. Aber wir haben sie in einen etwas anderen Kontext gestellt. Wir haben zum Beispiel darauf geachtet, die Sharks mit Menschen mit lateinamerikanischem Hintergrund zu besetzen.
Diese Geschichte hat so viele Jahrzehnte überdauert, weil sie das anspricht, was uns allen innewohnt – die Kraft der Liebe. Deshalb möchte ich, dass sich die nächste Generation von Theaterbesuchern in dieses Stück verliebt, so wie es die junge Generation in den 1950ern tat und seither jede Generation wieder getan hat.»
Black Lives Matter – gestern wie heute
Nicht die neuste Erkennt- nis, gleichwohl eine wichtige: Shakespeare hat uns Lebensleitlinien hinterlassen, die mühelos die Jahrhunderte über- dauern. Sind wir darüber bessere Menschen geworden? Die Rassismusproblematik ist heute kaum weniger aktuell als 1957: Black Lives Matter!
Die Sehnsucht nach einem besseren Leben ohne wirklich realistische Chance auf eine Erfüllung vereint den grössten Teil der Weltbevölkerung. Und auch das Verlangen nach einer selbstbestimmten Liebe über alle denkbaren Grenzen hinweg ist zwar eine zeitlose menschliche Sehnsucht, aber gleichermassen in vielen Teilen der Erde eine utopische.
Man wird Bernsteins «West Side Story» sehr wahrscheinlich auch in 50 Jahren noch aufführen und lieben – und vielleicht tatsächlich auf dem Mond spielen. Dass die Zeit Leonard Bernsteins Musik etwas anhaben könnte, ist jedenfalls kaum vorstellbar.
West Side Story
Di, 17.1.–So, 29.1.
Theater 11 Zürich Oerlikon