Er hat als Filmregisseur Karriere in Indien und in Hollywood gemacht. Er hat mit Kate Blanchett «Elisabeth» gedreht und mit Andrew Lloyd Webber das Musical «Bombay Dreams» produziert. In der Fernsehserie «Will» hat er Jugendgeschichten von William Shakespeare erzählt. Sogar ein Asteroid ist nach ihm benannt. Jetzt sitzt Shekhar Kapur im Zuschauerraum des Theaters St. Gallen und führt erstmals Regie bei einem Musical. «Es ist faszinierend», sagt der 72-Jährige, «denn es unterscheidet sich von der Filmregie. Dort geht es darum, die Schauspieler auf eine Szene vorzubereiten und dann zu filmen. Das Publikum spielt keine Rolle. Hier aber laden wir die Zuschauer ein, teilzunehmen am emotionalen Prozess, den diese Geschichte bietet.»
Die Geschichte heisst «Matterhorn». Sie erzählt vom Triumph und der Niederlage des britischen Bergsteigers Edward Whymper (1840–1911), der 1865 nach einem Wettrennen mit einer italienischen Seilschaft als Erster auf dem Gipfel des ikonischen Bergs steht. Seine Seilschaft verunglückt aber auf dem Abstieg. Vier von sieben Bergsteigern stürzen ab, das Seil zu Whymper und seinen zwei Begleitern reisst. Warum das passiert, wird über Jahre Gegenstand von Gerichtsprozessen sein.
So verwandelt sich der Sieg in ein Desaster – ein Thema, das den Liedtexter und Librettisten Michael Kunze über mehrere Jahre beschäftigt hat. Er ist am Theater St. Gallen ein alter Bekannter. Hier hat er in den letzten Jahren schon «Moses – Die 10 Gebote» und «Don Camillo & Peppone» zur Uraufführung gebracht. Jetzt ist gerade sein «Tanz der Vampire» in einer Neuinszenierung gespielt worden.
Von Kunze stammt auch die Idee, für die Musik den Komponisten Albert Hammond zu gewinnen, von dem Ohrwürmer wie «One Moment in Time» von Whitney Houston stammen. Und auch zu Shekhar Kapur hat Michael Kunze die Fäden gesponnen. «Wir haben ähnliche Anliegen», sagt Kapur, der sich in Indien stark für eine nachhaltige Wassernutzung einsetzt. «Es geht uns um die Zukunft unseres Planeten. Was tun wir diesem Planeten an? Das ist die Frage, die auch ‹Matterhorn› stellt.» Michael Kunze formuliert es ähnlich. «Das Matterhorn-Musical ist mehr als ein historisches Bergsteigerdrama», betont er. «Es behandelt den Konflikt zwischen Mensch und Natur. Es geht auch um die Gier nach Erfolg in unserer Zeit und Gesellschaft.»
Frauenrollen im Bergsteigerdrama
Mit plakativen Statements allein ist auf der Bühne nicht viel zu wollen. Hier müssen Figuren zum Leben erweckt werden. Für die Proben müssen vorderhand Bett und ein paar Stellwände genügen sowie ein Klavier für die Musik. Die Schauspieler Oedo Kuipers und Lisa Antoni haben Stellung bezogen, sie haben die Hauptrollen von Edward Whymper und Olivia Buckingham.
Kunze hat ins männlich dominierte Bergsteigerdrama mehrere Frauenrollen eingebaut. Der Bergsteiger kam als Zeichner nach Zermatt; seine Skizzen sind im Bühnenbild zu sehen. Er verliebt sich in Olivia, die Tochter des englischen Seilfabrikanten John Buckingham. Sie tröstet ihn, als er tief enttäuscht nach der Erstbesteigung unten ankommt, und fordert ihn auf, aus der Niederlage zu lernen. «Ein wahrer Held beweist sich, wenn er unterliegt», singt sie.
Regisseur Kapur schaut der Szene aufmerksam zu. Immer wieder steht er auf, geht auf die Bühne, korrigiert einzelne Bewegungen. In kleinen Schritten gibt er dem Ablauf jene Form, die ihm vorschwebt, achtet auf Details. Die Proben auf der Theaterbühne hat er auf ungewöhnliche Weise angefangen, wie Opernchef Peter Heilker erzählt. «Er hat alle Beteiligten gebeten, zehn Minuten umherzugehen, damit sie ein Gefühl bekommen für den Ort, an dem sie in den kommenden Wochen zu Hause sein werden.»
Während Kapur vorne das intime Duett im Schlafzimmer mehrmals proben lässt, kommt Leben in den Zuschauerraum. Der Choreograf Jonathan Huor trifft ein und klappt auf dem Regietisch seinen Laptop auf, Tänzerinnen und Tänzer ziehen sich um. Das Dorf macht sich bereit für die Gerichtsverhandlung, Bänke werden auf die Bühne gerückt. Und während dort nun in einer dramatischen Szene die möglichen Ursachen des Absturzes erörtert werden, taucht Franz Blumauer auf mit dem Countertenor Luigi Schifano, der bereits in einem der von Blumauer entworfenen Kostüme steckt. Wie lang soll der Ärmel sein? Diese Frage wird er mit Shekhar Kapur am Ende der Probe auf der Bühne erörtern.
Doch vorderhand ist dort Jonathan Huor am Werk. Alle Bewegungen müssen spontan wirken, und dennoch den gewünschten Eindruck vermitteln. Immer wieder unterbricht er die Gerichtsszene, gibt Anweisungen, bespricht sich dazwischen mit Kapur.
«Du darfst nicht gegen die Natur antreten»
Dann eine neue Szene. Die Bergsteiger sammeln sich zum Aufstieg: Edward Whymper verabschiedet sich von Olivia Buckingham. Sie versteht nicht, warum er um fast jeden Preis hinauf will auf diesen gefährlichen Berg. Ruhig und aufmerksam schaut Shekhar Kapur zu. «Du darfst nicht gegen die Natur antreten, das ist die Botschaft dieses Musicals», sagt er. «Du musst vielmehr eins werden mit der Natur.»
Was schwerfällt in einer Zeit, in der das kleine Dorf Zermatt nicht zuletzt dank Whympers Erfolg zum Touristenmagneten geworden ist, mit Hotels, Bahnen und einem Ortsmuseum. Dort findet sich auch das besagte Seil – gerissen und nicht etwa von Whymper durchgeschnitten, wie man ihm unterstellt hat.
«Matterhorn»
Premiere: Sa, 17.2., 19.30
Theater St. Gallen