Museumsbesucher lassen sich in Typen unterteilen. Es gibt die Zielstrebigen. Die gehen zügig durch eine Ausstellung und schauen sich nur an, was sie sofort beeindruckt. Es gibt die Gründlichen. Die schlendern durch die Säle, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, und studieren jedes Objekt genauestens.
Und dann gibt es Patrice Gilly und Saverio. Die beiden stehen an einem Freitagnachmittag in der Sammlungsausstellung im Museum Rietberg in Zürich vor einer Vitrine und imitieren den trichterförmigen Mund einer Holzmaske aus dem Kongo. «Kunnst du su gut spruchun? », ist Gilly durch seinen Schmollmund gerade noch zu verstehen. Saverio schüttelt den Kopf: «Nuin.» Dann lachen beide.
Tandem im Museum (TiM) heisst das Projekt, das den 8-jährigen Saverio und den 70-jährigen Patrice Gilly zusammengebracht hat. Die Idee dahinter: Freiwillige Guides gehen mit Menschen ins Museum, die sie bisher kaum oder gar nicht kannten – etwa mit dem Coiffeur, der Bewohnerin im Altersheim oder einer zufälligen Bekanntschaft. Beim gemeinsamen Ausstellungsbesuch suchen sie sich ein Objekt aus, zu dem sie für die TiM-Webseite eine Geschichte erfinden.
Und plötzlich sitzt Saverio am Boden
Patrice Gilly arbeitete als Schauspieler und Heilpädagoge und ist seit rund zwei Jahren Tandem- Guide. An Saverio, den Buben mit dem Flair fürs Geschichtenerzählen, erinnerte er sich noch aus dem Dorf, in dem er früher arbeitete. So stehen die beiden jetzt im Rietberg vor einer der hohen Vitrinen und wundern sich über eine Kopfstütze aus China. Das Stück aus Steinzeug zeigt das Blatt einer Pflanze, deren Wurzeln sich um einen schlafenden Buben ranken. «Das sieht aus wie eine Schlingpflanze », sagt Saverio.
Am Eingang der Sammlung hat der 8-Jährige Gillys Plan für den gemeinsamen Rundgang noch mit einem zurückhaltenden Nicken quittiert.
Mittlerweile rätselt er mit Patrice Gilly über die Funktion eines ringförmigen Stücks aus Kupfer, staunt mit ihm über das Alter eines Krugs und schaut sich rege nach Objekten für eine Geschichte um. Wenig später bleibt Saverios Blick auf einer Holzfigur hängen, die lässig auf einem Sockel sitzt. Der TiM-Guide bemerkt Saverios Interesse an der buddhistischen Statue: «Ich glaube nicht, dass ich in meinem Alter noch so sitzen kann.»
Da hat sich Saverio aber schon auf den Boden gesetzt, um die Position der Figur nachzuahmen: Ein Bein stellt er auf, das andere winkelt er wie für den Schneidersitz an, seinen linken Arm legt er auf das Knie des aufgestellten Beins.
«Wer Spass hat, lernt auch etwas»
«Es ist doch schön, ein Museumsobjekt einmal anders zu erleben, zum Beispiel einer Statue oder Figur über den eigenen Körper nachzufühlen», sagt Gilly nach dem Rundgang. Der Tandem-Guide hat sich zu Saverios Mutter an den Tisch gesetzt, die während des Rundgangs im Museumscafé wartete. Patrice Gilly ist überzeugt, dass es für den Kunstgenuss nicht zwingend kunsthistorische Fakten braucht.
Tatsächlich hat er in der Museumssammlung höchstens ein-, zweimal auf eine Infotafel geschaut, um sich über das Alter eines Objekts zu informieren. «Wichtig ist doch, was ein Kunstwerk oder ein Objekt bei mir persönlich auslöst.» Wie wichtig das Vergnügen bei einem Museumsbesuch ist, betont auch Franziska Dürr, Projektleiterin von Tandem im Museum. «Wer Spass hat, lernt auch etwas», sagt sie – und verweist auf die aktuelle Museumsdefinition des Internationalen Museumsrats ICOM, die dem Vergnügen und den Erfahrungen der Besucher einen grösseren Stellenwert einräumt.
Für viele Menschen sei das Museum noch immer ein befangener Ort, sagt Franziska Dürr. Sie hätten Angst, etwas nicht zu verstehen oder etwas falsch zu machen. Deshalb ist der TiM-Projektleiterin auch wichtig, dass der Tandem-Besuch gratis ist und das gemeinsame Erschaffen einer Geschichte im Zentrum steht. «Das soll Lust auf mehr machen», sagt sie. «Es ist eine Art Amuse-Bouche aus dem Museum.»
Statt in Gruppen im Zweiergespann
Das Projekt wurde 2013 unter dem Titel Generationen im Museum (GiM) von Migros-Kulturprozent, Bereich «Soziales », initiiert. Mittlerweile wird das Nachfolgeprojekt Tandem im Museum von der Beisheim-Stiftung, vom Bundesamt für Kultur und weiteren Stiftungen unterstützt und vom Verein Kuverum getragen. Im urspünglichen Rahmen begegneten zum Beispiel Gruppen von älteren Menschen Schulkindern.
Als die Pandemie solche Treffen verunmöglichte, ersetzte man das Konzept durch jenes der Zweiergespanne. Heute stellen sich für Tandem im Museum rund 250 Menschen als Guides zur Verfügung. Und rund 100 Museen beteiligen sich am Projekt, indem sie die Tandem-Eintritte offerieren. Beim Gros der beteiligten Häuser kommt Tandem im Museum laut Dürr gut an. «Viele Museen fühlen sich durch die Geschichten beschenkt und wenden diese Methode auch selber für Schulklassen oder besondere Gruppen an.»
Inspiration für eine eigene Geschichte
Im Museum Rietberg haben sich Saverio und Patrice Gilly am Schluss ihres Rundgangs für ihr Selfie vor der buddhistischen Figur auf dem Sockel positioniert. Nach einer halben Stunde war für den 8-Jährigen klar: Er möchte eine Geschichte zur Statue erfinden, deren Sitzposition er nachgeahmt hat. «Komm, wir machen nochmals ein Foto», sagt Patrice Gilly nach dem ersten Schnappschuss. «Du bist gut drauf, aber ich habe etwas Blödsinn gemacht.»
Dann stellt er auf seinem Mobiltelefon die Tonaufnahme ein. Saverio mustert die Statue, sein Blick bleibt dabei auf ihren zusammengekniffenen Augen hängen. Dann beginnt er zu erzählen. Seine kurze Geschichte steht ein paar Tage später zusammen mit dem Selfie auf der TiM-Website: «Sie ist soeben aufgewacht. Sie hat tief geschlafen. (...) Sie ist zu spät aufgewacht. Jetzt geht sie essen, es gibt Müesli zum Zmorge.» Birchermüesli im Buddhismus? Die Kunstgeschichte weiss eben auch nicht immer alles.