Mundartband: «Den Sound im Ohr»
Ein poetisches Experiment der besonderen Art: Balts Nill hat das Weisheitsbuch «Tao Te King» des chinesischen Philosophen Laotse in Berner Mundart übertragen.
Inhalt
Kulturtipp 24/2020
Babina Cathomen
geng da
himel u ärde
vergässe sech sälber
sy drum geng da
wär zrüggsteit
gwinnt vorsprung
chunnt sälbschtvergässe
zu sich
2000-jährige fernöstliche Philosophie verpackt in gemütliches Berndeutsch? Ja, das geht, wie der Autor und Schlagzeuger Ueli Balsiger alias Balts Nill beweist. Allerdings will er nichts von Behäbigkeit wissen: «Der Dialekt will den Text nicht ver...
geng da
himel u ärde
vergässe sech sälber
sy drum geng da
wär zrüggsteit
gwinnt vorsprung
chunnt sälbschtvergässe
zu sich
2000-jährige fernöstliche Philosophie verpackt in gemütliches Berndeutsch? Ja, das geht, wie der Autor und Schlagzeuger Ueli Balsiger alias Balts Nill beweist. Allerdings will er nichts von Behäbigkeit wissen: «Der Dialekt will den Text nicht vergemütlichen, sondern er spitzt ihn zu. Darum kein breites, behäbiges Berndeutsch, sondern eines mit kurzen, rhythmischen Sätzen und scharfer Ironie», sagte Nill in einem Interview mit dem «Bund» zu seiner Übersetzung. Balts Nill, der zusammen mit Endo Anaconda bis 2005 als Schlagzeuger im Duo Stiller Has unterwegs war, lässt sich für sein poetisches Experiment von seinem Rhythmusgefühl leiten: Und so überträgt er das Weisheitsbuch des Philosophen Laotse, das im 6. Jahrhundert vor Christus entstanden ist, in klingende Verse. «Plötzlich hat man den Sound im Ohr, man findet einen Ton und geht diesem nach», hat er festgestellt.
Seine Chinesisch-Lehrerin an der Migros-Klubschule hatte das vielfach übersetzte und vieldeutige Grundlagenwerk des Taoismus einst als «metaphysischen Unsinn» bezeichnet. Balts Nill zeigt nun, dass auch der heutige Mensch gerade in turbulenten Zeiten durchaus Sinn aus den philosophischen Versen über Weisheit, Zusammenleben und Zivilisationskritik ziehen kann. Allerdings galt es bei der Übersetzung einige Hürden zu überwinden: Der Begriff «der Weise» etwa existiert im Berndeutschen schlichtweg nicht. «Vielleicht will der Dialekt, dass niemand die Weisheit für sich pachten und sich über andere erheben kann. Ein taoistischer Gedanke: Sieht doch das Tao Te King die Weisheit im Kleinsten und Unscheinbarsten wirken», sinniert Balts Nill im Vorwort.
Der in herbstgelbes Leinen ummantelte Band ist ein schönes Geschenk für alle, die einen Gang runterschalten und sich auf die chinesisch-bernischen Weisheiten einlassen wollen. Ganz im Sinne von Laotse: «verdräät i de wort / ligt d wahrheit».
Buch
Balts Nill
Vo wäge do
Mundartübertragung von Laotse: Tao Te King
(Lokwort 2020)