Auf den beiden schwarzen Gestalten thronen ein roter und ein blauer Geigenkoffer. Ein energischer Ruck und die grosse Figur enthüllt eine Viola, kokett folgt die kleinere und zeigt ihren Violinen-Kopf. Munter plaudern und flirten die beiden mit Klängen auf ihren Instrumenten. Doch dann nimmt das Violinen-Geplapper überhand, die Viola hält sich den Kopf. Dann, plötzlich, ein lauter Einspruch der Viola – mitten in der Bewegung verharrt die Violine, augenblicklich stumm. Floriana Frassetto lacht laut heraus und klatscht in die Hände. «Si, genau so, grazie!», ruft sie Sara Hermann und Oliver Pfulg zu, die sich hinter den Instrumenten verbergen. Diese Szene sitzt. Es ist eine von 25 Nummern im neuen Programm, in dem das Maskentheater Mummenschanz seinem Erfolgsrezept treu bleibt: Ohne Worte, lediglich durch Bewegungen stellen sie alltägliche zwischenmenschliche Begegnungen dar – mit viel Humor und Poesie.
Noch nicht alles funktioniert reibungslos
Kurz vor der Uraufführung macht sich bei der temperamentvollen 66-jährigen Mummenschanz-Gründerin Floriana Frassetto eine gewisse Nervosität breit. Sie hat die künstlerische Leitung inne und fühlt sich für ihre vier neuen Mitstreiter verantwortlich. Noch funktioniert nicht alles so reibungslos wie die Violinen-Szene. Die Plastikplane für die Quallen-Nummer ist zu kurz geraten, ein anderes Kostüm ist beim Proben gerissen. Da Mummenschanz von der ersten Ideen-Skizze über die Gestaltung der Kostüme und Masken bis zur spielerischen Umsetzung alles selbst gestaltet, herrscht im grossen, lichtdurchfluteten Atelier in Altstätten ein geschäftiges Treiben. Nach wochenlangen Proben in den USA gibt die fünfköpfige Truppe dem Programm nun hier zwischen Nähmaschinen, bunten Kostümen, Masken, Stoffen, Farbdosen und Garnrollen den letzten Schliff. Am Rand lehnen die altbekannten Figuren wie die grossen weissen Hände oder der breitmaulige grasgrüne Frosch.
«Floriana ist die Kapitänin, die das Schiff steuert», sagt der 26-jährige Tessiner Artist Kevin Blaser, der wie die Fribourgerin Christa Barrett erst seit kurzem dabei ist. Die Meisterin selbst ergänzt: «Mummenschanz gibt mir meine Energie, es ist mein Leben, aber ich teile es gern mit den richtigen Leuten – und diese vier sind die richtigen.» Die Künstlerin, die seit 44 Jahren mit der Formation auf der Bühne steht, weiss genau, was sie will in ihren Choreografien. Dem Nachwuchs lässt sie aber Raum für eigene Ideen und Fantasien: «Jeder soll seine Persönlichkeit einbringen.»
«Eine poetische Welt – mit Pfeffer und scharfer Salsa»
Bereits seit eineinhalb Jahren dabei sind die Bündnerin Sara Hermann und der Zürcher Oliver Pfulg. «Es ist ein Einstieg in eine ganz neue Theaterform, eine Art Lehre», sagen die beiden. «Floriana kreiert das Bild des Abends, und in einem zweiten Schritt passen wir die Masken und Figuren an uns an, spüren heraus welche Rhythmen uns die Materialien vorgeben», erklärt Sara. An die neue Form mussten sich die vier zuerst gewöhnen, zumal sie in den Kostümen oft weder etwas sehen noch hören können. «Es braucht Mut, so auf die Bühne zu gehen», gesteht Sara. Einen Erwartungsdruck, die Geschichte dieser legendären Truppe fortzuführen, verspüren die vier hingegen nicht, wie sie einstimmig sagen. «Aber wir geben unser Bestes, die Mummenschanz-Vision umzusetzen.»
Warum wohl funktioniert diese stille Theaterkunst über Jahrzehnte hinweg in allen Kulturen und selbst in dieser schnelllebigen, lauten Zeit? Floriana Frassettos Antwort kommt postwendend: «In unserer computerisierten Welt brauchen die Leute Emotionen. Das Publikum kann für zwei Stunden in eine andere Dimension versinken, Magie erleben, ohne Musik, nur mit abstrakten Formen. Wir zeigen eine poetische, positive Welt – mit Pfeffer und scharfer Salsa natürlich!» Die Politik bleibt für einmal draussen, auch wenn es durchaus Platz hat für subtile Gesellschaftskritik. «Unsere Nummern sind manchmal melancholisch, ein bisschen kritisch, aber nie destruktiv. Anders als bei einem Musical wollen wir nicht vorgeben, was die Zuschauer denken sollen, sondern die spielerische, fantasievolle Seite der Menschen anregen.» Der Austausch mit dem Publikum und dessen Reaktionen gefallen ihr an der Bühnenarbeit besonders. Der Titel «you & me» des neuen Programms bezieht sich auf ebendieses Zusammenspiel, in dem die Zuschauer den Stücken ihre eigenen Fantasien einhauchen.
Inspiration auf dem Markt und in der Kirche
Jede Stadt, jedes Land reagiert anders: «Während die Chinesen erst lachen, wenn der Präsident lacht, sind etwa die Südkoreaner so spontan wie die Neapolitaner», erzählt Frassetto. Eindrücklich seien die Auftritte in den Ostländern der 70er-Jahre gewesen. «Die Ostberliner waren ganz raffiniert, sie konnten zwischen den Bewegungen Symbolisches herauslesen.» Und die Schweizer? «Wir mussten zwar zuerst in Amerika Erfolg haben, bis wir hier akzeptiert waren, aber die Schweizer sind ein liebevolles Publikum», lacht die Italienerin mit amerikanischen Wurzeln, die seit den 70ern in Altstätten lebt.
Ihre Inspiration holt sie sich auf den Tourneen um die Welt. In einer neuen Stadt gehe sie als Erstes immer auf einen Markt und in eine Kirche. «Dort spüre ich das Zentrum, dort finde ich meine Ideen.» Beim Musenkuss hält sie es mit der Metapher des Autors Jacques Prévert: Man soll den Vogelkäfig offen lassen und wenn der gefiederte Freund hineinfliegt, sofort schliessen.
Trotz des erprobten Konzepts ist sie offen für Neues: Das erste Mal in der Mummenschanz-Geschichte setzt sie in wenigen Stücken Klang-Momente ein. Ein Wunsch, den sie jahrelang gehegt hatte und nun mit der neuen Generation umsetzt. Und sogar das Handy hat einen Auftritt. Natürlich schafft es das Maskentheater, dem nüchternen Gerät doch noch eine Form von Poesie und Humor abzugewinnen. Doch darüber will Frassetto noch nicht zu viel verraten. Beim Probenbesuch kommen nach der Violinen-Szene zwei sich im Wind wiegende Blätter, unter denen sich Kevin und Christa verbergen, zum Einsatz. Sie nähern sich aneinander an und werden dann von Wellen davongetragen – hinaus in die bunten Herbstbäume, die das Atelier umgeben.
Weltweit beliebt
Das zeitgenössische Maskentheater Mummenschanz gehört zu den bekanntesten Theaterformationen im In- und Ausland. Die Künstler treten ohne Worte, in eng anliegenden schwarzen Kleidern mit farbigen Masken und Kostümen vor schwarzem Hintergrund auf. Gegründet wurde Mummenschanz 1972 von Floriana Frassetto, Andres Bossard (1944–1992) und Bernie Schürch, der 2012 zum letzten Mal aufgetreten ist. Von 1977 bis 1979 feierte das Trio am Broadway Erfolge. Seither waren sie auf der ganzen Welt zu sehen – von Südamerika über Südafrika bis Südkorea, von London bis New York. «you & me» ist nach 15 Jahren das erste neue Programm mit vier neuen jungen Darstellern unter der künstlerischen Leitung von Floriana Frassetto. Eric Sauge begleitet die Truppe
seit 2014 als Lichttechniker.
you & me
Premiere: Do, 1.12., 19.30 Theater 11 Zürich
Tournee durch die Schweiz mit über 100 Shows bis So, 4.6.17: www.mummenschanz.com