Noch bevor ein Ton gehört ist, gerät der Mozart-Mensch in grösste Erregung. Denn so viele Superlative erträgt nur Mozart. 10 Kilogramm schwer, einzeln nummeriert, gar limitiert, 200 CDs, 240 Stunden Musik, fast jede noch erhaltene Note, 600 Interpreten, 18 Plattenlabels vereint, exklusiver Zugang zu einer Libretto-App, 2 Bücher, 5 Mozart-Drucke obendrauf …
Der Mozart-Gemeinde ist dank dem Codewort «M225» auf der Box sofort klar, warum diese jetzt erschienen ist: Am 5. Dezember 2016 war der 225. Todestag des Meisters. Decca und die Deutsche Grammophon haben die CD-Box zusammen mit dem Mozarteum Salzburg, dem Mozart-Kompetenzzentrum, auf den Markt gebracht.
W.A. Mozart «begreifen» können
Doch wo beginnen? Gleich zur Ersteinspielung der verlorenen Arie von 1785 greifen? Oder zu CD 1, zum 17 Sekunden langen Andante des fünfjährigen Wolferl? Doch da brennt schon die Frage: Welcher «Don Giovanni» wurde ausgewählt (Yannick Nézet-Seguin)? Welche «Zauberflöte» (Claudio Abbado)? Wer spielt die Klavierkonzerte?
Hier wird es spannend, hat man doch zum Teil die Auswahl zwischen historischen und historisch informierten Aufnahmen: hier der US-Amerikaner Robert Levin und der Brite Christopher Hogwood, da die Engländer Mitsuko Uchida und Jeffrey Tate. Zu den Mozart-Spezialisten gesellen sich auch Plácido Domingo oder David Garrett (CD 198, eine 19 Jahre alte Aufnahme). Domingo ist auf CD 148 zu finden, auf der Stars wie Luciano Pavarotti, Cecilia Bartoli und Anna Netrebko Arien singen. Jeder darf und soll mit dabei sein.
Das Verblüffendste: Was im Mozart-Jahr 1991 mit 180 CDs 3000 Franken kostete, ist jetzt mit der neu erhältlichen Box für 350 bis 400 Franken zu haben. Die Aufnahmen von damals hingegen kosten momentan bei Amazon 5999 Franken. Verkehrte Welt? Diese Diskrepanz beruht auf zwei Aspekten im CD-Boxen-Geschäft: Preis und Wert. Den Preis bestimmt ein Finanzchef, den Wert der Klassikfreund.
Als die ersten (günstigen) Boxen in den Handel kamen, hiess es, die Plattenfirmen würden ihr Tafelsilber verscherbeln. Das taten sie im Prinzip auch, da noch vor wenigen Jahren eine einzelne CD 38 Franken kostete: In den Boxen sank der Preis dann bisweilen auf unter zwei Franken pro CD.
Die heutigen Boxen sind laut Clemens Trautmann, Präsident der Deutschen Grammophon, aber alles andere als die letzte Chance, das Tafelsilber noch einmal an die Käufer zu bringen: «Die digitale Transformation und physische Produkte schliessen sich nicht aus, sondern ergänzen sich perfekt.» Es gebe nach wie vor ein Kundenbedürfnis, ein Œuvre wie das von Mozart im wahrsten Wortsinn «begreifen» zu können. «Mozart225» sei vielleicht die analoge Suchmaschinen-Antwort auf die Frage: «Wer ist Mozart, und was hat er gemacht?»
Der unermessliche Schatz als Verpflichtung
Decca und Deutsche Grammophon verfügen gemeinsam über das bedeutendste Archiv für klassische Musik. Der unermessliche Schatz ist für Trautmann eine Verpflichtung: Er will ihn der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Der Preis der Mozart-Box ist somit erklärbar: Zwar kann man mit ein paar ganz neuen Aufnahmen auftrumpfen, greift aber naturgemäss auch auf das riesige Sortiment zurück. Waren 1991 fast alle Aufnahmen von Philips, ist man jetzt unter dem Dach von Universal, zu der die Deutsche Grammophon und Decca gehören (der ehemalige Philips-Katalog ist integriert).
Wer glaubt, dass diese Boxen gegen den Trend seien, weil sie zu viel Platz im Wohnzimmer belegten, enorme Zeit zum Hören einforderten und deswegen bald der Vergangenheit angehören würden, kennt die Klassikfreunde schlecht: Diese Welt ist voller «Boxenluder». Martin Korn, Sony-Label-Manager Klassik, sagt dazu: «Solche Editionen sind von Trends unabhängig. Sie richten sich an Kenner und Sammler, vor allem in Fernost. Ich sehe momentan kein Ende.»
Kennenlern-, aber auch Nostalgie-Effekt
Korn widerspricht der Theorie, dass nur ein älteres Publikum angesprochen wird: «Gerade jüngere Käufer können dank einem günstigen Preis grosse Künstler der Vergangenheit kennenlernen. Und für ältere Käufer, vor allem die richtigen Klassik-Aficionados, ist bestimmt auch der Nostalgie-Effekt wichtig. Aufnahmen, die man schon auf LP geliebt hat, bekommt man nun komplettiert und neu abgemischt in kompakter Form.»
Das Box-Set «Nikolaus Harnoncourt – The Complete Sony Recordings» mit 65 CDs (!) war ein Bestseller im Weihnachtsgeschäft. Auch «Mozart225» spielte dort kräftig mit. «B2020», die Box zum 250. Geburtstag von Beethoven in gut drei Jahren, kann kommen.
W.A. Mozart
«The Complete Edition» 200 CDs (Decca/Universal 2016). 350–400 Franken