Als sie in Zürich einen neuen Chefdirigenten für das Tonhalle-Orchester suchten, machten sie eine lange Liste – und landeten am Ende bei Paavo Järvi. In St. Gallen spielte sich der Prozess beim Sinfonieorchester ganz anders ab. «Wir haben uns gefragt, mit wem wir gute Erfahrungen gemacht haben», erzählt Konzertdirektor Florian Scheiber. «Und da sind wir rasch bei Modestas Pitrenas gelandet. Wir haben Verhandlungen aufgenommen und uns gefunden.» Am 1. August 2018 soll er den Holländer Otto Tausk ablösen, der St. Gallen in Richtung Vancouver verlässt.
Ein umgänglicher Mensch mit Faible für Klänge
Dieser rasche und reibungslose Ablauf passt zum 43-jährigen Litauer. Er ist ein umgänglicher Mensch, der sich beim Sprechen über Musik gern mit dem Klang beschäftigt. Zum Beispiel im Fall von Jules Massenets «Le Cid», den er im vergangenen Jahr an den St. Galler Festspielen dirigiert hat. Massenet sei ein Klangzauberer, hat er im Vorfeld der Premiere erzählt: «Bei ihm gehen die Farben ineinander über wie in der französischen Malerei.» Und so hat er «Le Cid» mit einem Orchester gestaltet, das schon 2014 bei George Bizets «Carmen» seine Erfahrungen mit ihm und mit dem französischen Repertoire gemacht hatte. Pitrenas verbinde dramatische Spannung und Poesie wirkungsvoll miteinander, hatte die NZZ über diese «Carmen» geurteilt. Zwei Jahre zuvor hatte der «Landbote» über die Aufführung von Richard Strauss’ «Salome» geschrieben: «Das Sinfonieorchester St. Gallen hat einen grossen Abend mit brillanten Bläsern, präzisem Blech und schillernder Klangatmosphäre von Schlagzeug und Streichereffekten, differenziert und breit aufgefächert in den Farben und Klangschichtungen.»
Ein freundlicher Perfektionist
Solche Lobeshymnen sind Resultat ausdauernder Arbeit von der allerersten Probe an. Florian Scheiber sagt denn auch: «Wir wollen etwas mit Modestas Pitrenas zusammen aufbauen. Deshalb haben wir einen Vertrag auf fünf Jahre – statt der üblichen drei – abgeschlossen.» Beim Orchester geniesse er grossen Respekt. «Er verlangt viel von den Musikern und ist ein Perfektionist, der sich nicht so leicht zufrieden gibt. Aber er tut es freundlich und bescheiden.»
Ein Chefdirigent muss in St. Gallen auch Operndirigent sein, und genau dies ist Modestas Pitrenas in hohem Mass. Im litauischen Vilnius aufgewachsen, ist er in einem Land gross geworden, in dem Musik und Oper viel zur Identität beitragen. Allein in der Hauptstadt gibt es drei grössere Orchester. «Das ist viel für eine Halbmillionenstadt», sagt er. Zuerst hat er dort das Chordirigieren gelernt, dann am Mozarteum Salzburg weiterstudiert. Von 2008 an war er Chefdirigent der Nationaloper im lettischen Riga, zurzeit ist er Chefdirigent und künstlerischer Leiter des Litauischen Nationalen Sinfonieorchesters in Vilnius. Daneben hat er international eine reiche Tätigkeit als Operndirigent entfaltet. In St. Gallen hat er neben der «Salome» von Richard Strauss, Bizets «Carmen» und Massenets «Le Cid», «La Wally» von Alfredo Catalani und «Der fliegende Holländer» von Richard Wagner dirigiert – und drei Orchesterkonzerte.
Spätromantik und Östliches
Das nächste Konzert in St. Gallen ist für den 27. Oktober angesagt, und obschon bei dessen Planung Pitrenas’ Berufung in weiter Ferne lag, wirkt dessen Programm wie eine Art Visitenkarte: Die Sinfonie Nr. 6 h-Moll von Peter Tschaikowsky, die «Pathétique», ausserdem «Im Walde» des Litauers Mikalojus Konstantinas Ciurlionis und das Konzert für Englischhorn sowie Orchester des Letten Peteris Vasks.
In Operntiteln und den Programmen von Sinfoniekonzerten wird die Richtung deutlich, in die der neue Chefdirigent das St. Galler Orchester planen wird. Pitrenas pflegt und liebt das spätromantische Repertoire, und er wird in den Sinfoniekonzerten weiter nach Osten ausgreifen als sein Vorgänger Otto Tausk. «Litauen liegt ja an der Grenze zwischen westlicher und östlicher Kultur», sagt Pitrenas selber. «Das ist eine Chance.» Er werde sich trotz seiner übrigen Verpflichtungen stark auf St. Gallen konzentrieren, fügt Florian Scheiber hinzu.
Das Baby per Skype kennengelernt
Wie wichtig ihm gründliche Arbeit ist, hat Pitrenas im Sommer des vergangenen Jahres gezeigt. Während seine Frau ihre zweite Tochter zur Welt brachte, steckte Pitrenas in den Endproben – und musste das Neugeborene zuerst via Skype kennenlernen. Die Ehefrau hat das verstanden. Als Mezzosopranistin kennt sie den
Musikbetrieb bestens, und mit St. Gallen ist sie vertraut. Hier hat sie schon die Olga in Peter Tschaikowskys «Eugen Onegin» gesungen.
Konzerte
2. Tonhallekonzert: Sinfonieorchester St. Gallen
Fr, 27.10., 19.30 & So, 29.10., 17.00
Tonhalle St. Gallen
Peter Tschaikowsky: «Pathétique»
Mikalojus Konstantinas Ciurlionis: «Im Walde»
Peteris Vasks: Konzert für Englischhorn und Orchester
Leitung: Modestas Pitrenas