Kennen Sie das Städtchen Marieherbert? Nein? Seien Sie getrost – so geht es fast allen. Selbst den Einwohnern Frankreichs, in dessen Norden Marieherbert liegt. Nicht einmal in der eigenen Provinz haben die meisten je von einer Ortschaft dieses Namens gehört. Und doch existiert Marieherbert. Das Städtchen ist nur leider von solch übermässiger Durchschnittlichkeit, dass man es, verirrt man sich einmal hin, sofort wieder vergisst.
Es ist weder hübsch noch hässlich und bietet nichts, was Besucher anlocken würde. Es hat eine kleine Altstadt mit einer barocken Kirche und eine Fussgängerzone, es gibt mehrere Supermärkte, die Filiale einer Drogeriekette, zwei Apotheken und drei Schulhäuser. Marieherbert besitzt eine Industriezone, in der immer noch Maschinenteile und chemische Komponenten für einen Kunststofffabrikanten hergestellt werden, wo aber auch Gebrauchtwagen verkauft und ein paar alte Hallen zu Künstlerateliers umgenutzt wurden.
Es hat Fussballplätze, Einfamilienhausquartiere und eine kleine Hochhaussiedlung. Ja, es gibt sogar einen Bahnhof, an dem stündlich ein Schnellzug hält. Manchmal blicken die Pendler und Reisenden kurz von ihren Mobiltelefonen, Laptops und Büchern auf, lesen den Namen der Haltestelle, sehen das nichtssagende Bahnhofsgebäude, die Gleise oder Holzbaracken daneben – und vergessen es gleich wieder.
Marieherbert ist so unscheinbar und langweilig, dass – zur grossen Verzweiflung des Bürgermeisters – immer mehr Bewohner wegziehen. Er versucht, sie mit verschiedensten Anreizen in seiner Gemeinde zu halten: Im Freibad lässt er eine Rutschbahn mit Looping bauen, Stadtbeamte erhalten jede Woche einen zusätzlichen freien Tag, und eine Zeitlang sind sämtliche Süssigkeiten mit Erdbeergeschmack in Marieherbert gratis – doch nichts nützt. Das einzig Spezielle an Marieherbert ist sein Name, den es den Stadtheiligen Herbert und Marie zu verdanken hat.
Die Köpfe dieses christlichen Märtyrerpaars sollen, nachdem selbige ihnen von heidnischen Soldaten abgeschlagen worden waren, noch stundenlang weitergesungen haben. Und da hat der fromme Bürgermeister die zündende und eigentlich logische Idee: In Marieherbert sollen fortan nur noch Maries und Herberts wohnen! Paarweise und steuerfrei! Es wäre damit nicht nur eine Ehre, hier zu leben und die Geschichte des Orts fortzuschreiben, sondern auch finanziell interessant, was gewiss genügend Franzosen anziehen würde.
Auch die Bürger heissen diesen Plan gut – und verlassen das Städtchen in Scharen (erleichtert, so scheint es), denn eine Marie-Herbert-Kombination gibt es hier keine einzige. Auch der Bürgermeister, der zwar Herbert heisst, dummerweise aber mit einer Lily-Jacqueline verheiratet ist, opfert sich für seine Stadt. Doch bevor er wegzieht, empfängt er das einzige Paar, das dem landesweiten Aufruf gefolgt ist, und begrüsst Herbert und Marie, die nunmehr alleinigen Bewohner des Orts.
Herbert wird einstimmig zum Bürgermeister gewählt, und sein Vorgänger nimmt sich noch den Morgen Zeit, ihn ins Amt einzuführen. Den restlichen Tag verbringt Herbert damit, sich die Arbeitsstätten des Polizeivorstehers, Feuerwehrhauptmanns und Pfarrers anzusehen, deren Aufgaben er ebenfalls übernimmt. Am Anfang geht das ganz gut. Klar, Marie und Herbert müssen sich an einen neuen Alltag und neue Verantwortungen gewöhnen.
So erledigt jetzt Herbert morgens die Einkäufe, weil Marie, nachdem sie die Post ausgetragen hat, an der Kasse im Supermarkt arbeiten muss. Abends schimpft sie ihn zu Beginn, weil er unsinnig eingekauft hat, doch schon bald meistert er die neue Herausforderung. Marie auf der anderen Seite muss das Zehnfingersystem lernen, damit sie als Sekretärin des Bürgermeisters dessen Diktate effizient mitschreiben kann.
Ausserdem ist sie ehrenamtlich im Wahlkomitee für Herbert tätig und leitet den Verein der Rosenzüchterinnen, in dem Herbert partout nicht Mitglied werden will. So leben die beiden einen erfüllten bürgerlichen Alltag, stolz, ihr Städtchen zu repräsentieren und voranzubringen. Herbert findet Ausgleich im modernen Fitnesscenter, an dessen Empfang Marie die Mitgliederverwaltung komplett neu strukturiert. Marie entdeckt das Reiten für sich und mag, wie Herbert frischen Wind in das lokale Pferdezentrum bringt.
Erste Risse bekommt das neue System erst, als Herbert Marie einen Strafzettel ausstellt, weil sie ein paar Minuten zu lange geparkt hat, diese sich daraufhin brieflich beim Bürgermeister beschwert, der die Sache jedoch verschlampt und ihr nie antwortet. Das allein hätte Marie noch akzeptiert, doch als Herbert seine Stellung als Bahnhofvorstand ausnutzt, um ihr, als sie abends die Büros putzt, unangemessene Avancen zu machen, reisst ihr Geduldsfaden. Sie kündigt und wendet sich an die Gewerkschaft.
Da Herbert als Hausmeister des Bahnhofs in der gleichen Gewerkschaft sitzt, legt er seine Arbeit solidarisch nieder. Nach nur wenigen Tagen beschwert sich Marie jedoch, weil sich vor ihrem Kiosk, den sie selbständig betreibt, der Abfall zu türmen beginnt. Der Bahnhofvorstand weiss keinen anderen Rat, als am Morgen selbst den Besen zur Hand zu nehmen, kommt dadurch aber zu spät zur Sitzung im Rathaus, wo seine Sekretärin genervt auf ihn wartet.
Am Mittag gibt es Schelte von Marie, weil er statt einkaufen putzen war, und das ausgerechnet an einem Mittwoch, an dem sie nachmittags im Fitnesscenter arbeitet und dann direkt ins Vereinslokal muss. Auch Herbert ist gestresst. Marie hat anlässlich des Jubiläums der erst drei Monate alten neuen Stadtregierung eine Bürgerfeier beantragt, doch die einzige Eventorganisation des Orts hat keine Kapazitäten.
Er sollte unbedingt ein Inserat für das neue Reinigungspersonal am Bahnhof aufgeben, sich um Maries Beschwerden kümmern und die nächste Predigt vorbereiten. Weil er die Gewerkschaftsstatuten mit ins Pfarrhaus nimmt, lässt er sich am Sonntag auf der Kanzel über den Klassenkampf aus. Zuhause gibt es deswegen einen so grossen Streit, dass Maries Doktor (Herbert, der dafür einen medizinischen Fernkurs belegt hat) ihr mitteilen muss, dass sie kurz vor einem Nervenzusammenbruch stehe und sich unbedingt eine Auszeit nehmen müsse.
Herbert erleidet am nächsten Tag im Rathaus wegen der fehlenden Unterstützung durch seine Sekretärin ein Burnout. Zur Kur fahren Marie und Herbert gemeinsam.
Zur Person
Mirko Beetschen wurde 1974 in Interlaken geboren und ist am Thunersee aufgewachsen. Während seines Literaturstudiums mit Auslandaufenthalten in den USA und England arbeitete er als Buchhändler und Redaktor im Bereich Architektur und Design. Seit 2005 ist er als Schriftsteller, freier Journalist und Unternehmer tätig. Kürzlich ist sein dritter Roman, der Thriller «Das Haus der Architektin», im Zytglogge Verlag erschienen.
www.mirkobeetschen.com