Mirjam Kristensen In der Fremde
Mirjam Kristensen leuchtet in ihrem neuen Roman «Ein reiches Leben» <br />
das Innenleben der russischen Immigrantin Dahlia aus.<br />
Inhalt
Kulturtipp 15/2011
Letzte Aktualisierung:
05.03.2013
Babina Cathomen
Die Schuld lastet schwer auf Dahlia: Vor ihrem Haus wurde eine junge Frau angefahren, der Lenker hat Fahrerflucht begangen. Ihr Nachbar Isak vertraut sich ihr an, gesteht die Tat. Nach und nach verschiebt sich Dahlias Wahrnehmung jedoch. War es etwa sie selbst, die am Steuer sass?
Im neuen Roman der norwegischen Autorin Mirjam Kristensen steht eine vereinsamte Frau im Mittelpunkt: Dahlia, 52, Slawistik-Dozentin, vor 18 Jahren aus der ehemaligen Sowjetunion nach Kopenhagen migriert. Ihr ...
Die Schuld lastet schwer auf Dahlia: Vor ihrem Haus wurde eine junge Frau angefahren, der Lenker hat Fahrerflucht begangen. Ihr Nachbar Isak vertraut sich ihr an, gesteht die Tat. Nach und nach verschiebt sich Dahlias Wahrnehmung jedoch. War es etwa sie selbst, die am Steuer sass?
Im neuen Roman der norwegischen Autorin Mirjam Kristensen steht eine vereinsamte Frau im Mittelpunkt: Dahlia, 52, Slawistik-Dozentin, vor 18 Jahren aus der ehemaligen Sowjetunion nach Kopenhagen migriert. Ihr Mann Iwan hat sie für eine jüngere Jütländerin verlassen, den Verlust hat Dahlia nie überwunden. Die neue Heimat bleibt ihr fremd, und freundschaftliche Beziehungen sind rar. Die Leere füllt sie mit Arbeit, nutzt die russische Literatur als «Beatmungsgerät, um sich selbst als Ausländerin, Einwanderin, Immigrantin am Leben zu halten».
In diesem Klima der Einsamkeit saugt Dahlia die Geschichte ihres älteren jüdischen Nachbarn Isak geradezu auf. «Er hatte sich für sie entschieden, und es hatte vor ihm nicht viele gegeben, die sich ausgerechnet für sie entschieden hatten.» Isaks Geständnis wird für sie zum alles beherrschenden Thema. Auch nachdem er kurz darauf stirbt, lässt sie das Ereignis nicht los. Und plötzlich zweifelt sie an ihrer Wahrnehmung. Isaks Geschichte wird ihre eigene: Im letzten Teil des Romans wird der Unfall mit umgekehrten Verhältnissen von Neuem aufgerollt, die Schuld nimmt Dahlia auf sich.
Kristensens Werk kreist wie bereits im Roman «Ein Nachmittag im Herbst» um das Verlorenheitsgefühl der Protagonisten. Die 33-jährige Autorin wirft zudem Fragen nach Schuld und Verantwortung auf. Bis zum Schluss bleibt unklar, wo Wahrheit und Lüge beginnen, wo genau Dahlias Realitätsverlust einsetzt. Eindrücklich schildert Kristensen in einer genauen Innenaufnahme die Einsamkeit der Protagonistin, die sich immer mehr in sich selbst zurückzieht. «Könnte sie bloss ihr Leben aus ihrem Körper lösen und woanders einziehen lassen, in etwas ausserhalb von sich», sagt sich Dahlia. Ihr Wunsch ist «ein reiches Leben», wie es im Titel als eine Art Gegenentwurf zum Bestehenden angedeutet ist.
[Buch]
Mirjam Kristensen
Ein reiches Leben
Aus dem Norwegischen
von Ina Kronenberger
254 Seiten
(Dörlemann 2011).
[/Buch]