Ein leerer Raum. Ein leerer Raum in einem beliebigen Haus. Auch der Ort, an dem dieses Haus steht, ist beliebig. Nur der Raum ist von Bedeutung.
Es ist dunkel in diesem Raum. Es gibt kein elektrisches Licht. Nicht einmal eine kahle Glühbirne, die von der Decke hängt. Und es ist feucht. Die Feuchtigkeit dringt von aussen durch die Wände. Es könnte sich um Vietnam handeln, doch das spielt keine Rolle. Das Einzige, was zählt, ist der leere Raum.
In diesen Raum zieht sich ein Mann zurück. Nennen wir ihn Jacques.
Jacques ist ein gewöhnlicher Mann unbestimmten Alters. Sagen wir 40. Auf der Strasse fällt er nicht auf. Egal, ob er sie als Einziger entlanggeht, oder ob er sie mit anderen teilt. Von Weitem betrachtet ist Jacques ein gewöhnlicher Mann. Von Näherem betrachtet unterscheidet er sich von den anderen.
Was Jacques von den anderen unterscheidet, ist sein leerer Raum. Allmählich hat er alles daraus entfernt. Jedes Möbelstück, die Teppiche, die Lampen. Dann sah er, dass es nicht genügte. Plötzlich störte ihn auch das geölte Parkett, die glatten, weissen Wände. Er riss die Holzplanken heraus und schabte die Farbe von den Wänden. Zurück blieben die nackten Bodenbretter und der rohe Verputz voller Risse und Kratzer. Das einzige Fenster hat er mit Brettern vernagelt.
Wenn er müde ist, zieht er sich in diesen Raum zurück. Dort bleibt er auf dem Boden sitzen oder liegen und vergisst die Zeit. Vergisst nach und nach, was er weiss, und findet neues Wissen. Es ist nicht leicht zu sagen, woher seine Müdigkeit rührt. Ist sie Gleichgültigkeit, die einem Übermass an Leid entsprungen ist? Ist sie einer hohen Sensibilität geschuldet? Ist er auf der Suche nach etwas?
Irgendwann verlässt Jacques den Raum und kehrt ins normale Leben zurück, ins Licht und unter die Gegenstände, unter die Menschen und in seinen Beruf.
Bevor Jacques den leeren Raum besass, lebte er mitten unter den Dingen und Menschen. Es war ständig laut und hell um ihn herum. Doch dann kam der Tag, an dem es passierte.
Als es passierte, pfiff ein Vogel eine Melodie. Das war es, was Jacques vernahm – die Melodie eines Vogels, losgelöst von allem. Er erinnert sich auch daran, sich gefragt zu haben, wo der Vogel sich wohl befand. Er starrte auf die nasse Felskante, über die sein Freund geglitten war, über welche sie noch vor wenigen Sekunden schweigend in den Abgrund geblickt hatten, und nahm die Melodie des Vogels war. Dann war es still.
Es hatte keinen Schrei gegeben. Keinen Aufprall des Körpers. Es hatte nur das Pfeifen des Vogels gegeben und danach die Stille.
Beim Abgrund, erfuhr Jacques später, handelte es sich um eine 26 Meter tiefe Schlucht. Die Höhe eines Kirchturmes. Ein kirchturmhoher Sturz, schwebend über dem Tal. Adrians Körper war im Bergbach gefunden worden, als hätte er im Flug dorthin gezielt.
Sein leerer Raum wird manchmal zu diesem Abgrund, in den Adrian und er geblickt hatten, bevor Adrian gestürzt war. Jacques hatte an der Unfallstelle nicht wieder über die Felskante geschaut. Es war nicht nötig gewesen; er hatte den Abgrund nicht nur gesehen, er hatte ihn plötzlich auch begriffen.
Manchmal wird Jacques’ leerer Raum zu diesem Abgrund, in den Adrian hineingefallen ist. Dann schreckt er hoch und denkt: Das stimmt doch alles gar nicht, das ist nur erfunden und nicht wirklich geschehen. Wie wenn ein Schriftsteller eine Carte blanche gehabt hätte, unbegrenzte Freiheit auf einem weissen Blatt Papier. Und was macht der Schriftsteller? Er fängt bei null an. Sucht das Leere, Dunkle, Einsame. Denn längst hatte er die Erkenntnis, dass er erst eine Geschichte schreibt, wenn er nicht mehr glaubt, eine Geschichte zu schreiben. Das schöpferische Nichts. Er gibt ihm eine Form, indem er einen leeren Raum erfindet. Einen Raum so leer wie sein leeres Blatt Papier, losgelöst von der Landkarte und befreit von allen Gegenständen. Dann setzt er eine Figur in diesen Raum, mich, Jacques. Eine möglichst unbestimmte und müde Figur, die sich aus seiner Müdigkeit heraus plötzlich verselbständigt und etwas macht, zum Beispiel Farbe von den Wänden schabt. Schon gibt es eine Auswahl von Beweggründen, welche die Figur zu diesem Handeln angetrieben haben könnte, und ein Ereignis, das dieser Auswahl von Beweggründen vorausgegangen sein muss; eine zweite Figur, die an diesem Ereignis teilgenommen hat und so weiter. Plötzlich ist da eine Geschichte, die sich entwickelt. Aber es ist eine erfundene Geschichte, sie hätte auch eine andere Richtung nehmen können, Adrian ist nicht gestorben, möchte Jacques sagen, doch seine Stimme versagt.
Die Geschichte wird zum Buch. Der Schriftsteller liest eines Abends in einem Saal daraus vor.
«Woher kommen die Ideen?», wird der Schriftsteller gefragt.
«Aus dem Nichts.»
Jetzt reisst Jacques die Augen auf und sieht sich um. Doch, er ist in diesem Raum. Doch, Adrian gibt es wirklich nicht mehr. Er betastet die Wände, den kahlen Boden. Er reisst die Bretter vor dem Fenster weg. Licht fällt in den Raum. Draussen ein Moped, das vorbeifährt. Es ist Vietnam. Tatsächlich.
Mireille Zindel
Die 43-jährige Zürcherin hat letztes Jahr mit ihrem Roman «Kreuzfahrt» im Verlag Kein & Aber einen literarischen Erfolg erzielt. Sie erzählt darin die Fantasie einer spannungsgeladenen Dreiecksgeschichte.