Am Anfang las ich meinen beiden Söhnen vor. Sie mochten die Kinderverse und Tiergedichte von Franz Hohler. «Es war einmal ein Igel» (dem wuchsen plötzlich Flügel) und «Am liebsten ass der Hamster Hugo Spaghetti mit Tomatensugo». An einige Reime erinnern wir uns bis heute. Geschichten verbinden, auch solche, die man gemeinsam gelesen hat.
Dann kamen die Fabeln von La Fontaine, Aesop, Lessing, Tolstoi und den Indianern: Fuchs, Eule, Rabe, das ganze Arsenal an Tieren, Pflanzen und fabelhaften Mischwesen, die, mit menschlichen Eigenschaften versehen, in kurzen, pointierten Geschichten die Kinder aus sicherer Distanz belehrten. Unter ihren Decken lauschten sie wohlig fröstelnd den Worten, und ich war froh, musste nicht ich den Moralapostel spielen.
Von den Bilderbuchklassikern bekamen sie lieber Janosch als Ungerer vorgelesen. Alles von Janosch, alles! Grundsätzlich alles, was lustig war und zart. Für die oft finstere oder skurrile Welt von Ungerer waren sie weniger empfänglich. Ebenso wenig für Märchen. Bis heute mögen sie keine Märchen. Sie wollen sie nicht hören und noch weniger sehen. Ich musste schon mitten in der Vorführung das Opernhaus verlassen, weil sie nicht länger zuschauen wollten, wie Hänsel und Gretel sich im Wald verliefen. Oder weil ihnen die böse Hexe aus «Der Zauberer von Oz» zu böse war und in der Fantasy-Weltvon «Coraline» die Menschen Knöpfe statt Augen hatten.
Was ebenfalls nicht funktionierte: Theater. Sie hielten es wirklich für: Theater. Mein Jüngerer hat vier Stücke lang in den Ellbogen geblickt: «Räuber Hotzenplotz», «Das kleine Gespenst», «Rumpelstilzchen» und «Frau Holle». Ich glaube, er wollte sich seine eigenen Bilder machen.
Versuche, die gänzlich abgebrochen werden mussten, weil sie die Geschichten über lange Leidenswege, ausgesetzte oder verwaiste Kinder partout nicht hören wollten: «Das Dschungelbuch», «Pinocchio», «Tom Sawyer». Und «Tarzan» und «Heidi» haben sie regelrecht verabscheut. Wie gesagt: nichts allzu Trauriges oder Grausames.
Einmal bekam ich einen Wassermelonen-Erdbeer-Saft aus einem «Globi-Kochbuch» vorgesetzt. Sie lasen also Rezepte. Oder auch nicht. Ich fand nie ein entsprechendes Rezept im Buch.
So trägt man Werke an die Kinder heran, von denen man glaubt, sie könnten ihnen gefallen, und sie beweisen das Gegenteil oder machen etwas Eigenes daraus.
Der erste Roman, den sie allein gelesen haben, war «Dr. Dolittle», der Arzt, der mit den Tieren sprechen kann und von den Menschen für verrückt gehalten wird. Die Geschichte hat ihnen so gut gefallen, dass sie auf langen Autofahrten auch dem Hörbuch (gelesen von Elke Heidenreich) gelauscht haben. Ebenso gehört und geliebt wurde: «Pu der Bär» und «Der Wind in den Weiden», vorgelesen von Harry Rowohlt. Diese Geschichten haben sie mit nach Hause gebracht. Mit zunehmendem Alter fanden immer mehr Bücher auf ihre Initiative hin den Weg zu uns.
Jules Verne mögen sie. «In 80 Tagen um die Welt» hat der Ältere an der Schule vorgestellt. Auch der Jüngere, der lange auf «Mickey Mouse» fixiert war, hat «Reise zum Mittelpunkt der Erde» und «20 000 Meilen unter dem Meer» gelesen. Für einmal ein Bubenklischee, das sich bewahrheitet hat: Abenteuer und Technik, das interessiert sie tatsächlich.
Heute sind meine Jungen zehn und elf Jahre alt. Letztes Jahr habe ich ihnen «Die unendliche Geschichte» von Michael Ende vorgelesen. Sie haben jedes Wort verfolgt. Dass Buben sich nicht für Bücher interessieren, ist eine Mär.
Sie mochten es, als ich ihnen «Die Chroniken von Narnia» vorgelesen habe, aber überhaupt nicht, als ich ihnen mit «Winnetou» kam. Es war ihnen zu viel Gemetzel und die Sprache klang veraltet. Da denkt man, «Winnetou» gefalle den Kindern bestimmt, weil Generationen von Kindern zuvor «Winnetou» gelesen und geschaut haben, aber nein. Plötzlich lesen sie lieber die Rückseite der Cornflakes-Packung oder gar nichts oder malen sich ihre eigene Geschichte aus, schreiben sie auf Papier, fügen ein paar Zeichnungen hinzu, falten das Ganze und heften es zu einem Buch zusammen. Schon ist der erste Roman verfasst! Der eigene, der ihnen besser gefällt als der mit Old Shatterhand. Überhaupt mögen sie Neues lieber als Altes. Das Argument, etwas sei ein Klassiker, verfehlt garantiert sein Ziel. Sage ich ihnen hingegen, eine Geschichte hätte mir selber gut gefallen, weckt das ihr Interesse. Noch mehr interessiert sie allerdings, was ihre Freunde mögen.
Der Elfjährige hat vor zwei Wochen sein erstes Erwachsenenbuch gelesen: «Die Schachnovelle» von Stefan Zweig. Genau wie sein Schulkollege. Jetzt wollen sie ins Kino, den Film schauen gehen, aber der ist erst ab zwölf.
Die griechischen Sagen von Dimiter Inkiow haben uns über Wochen hinweg auf CD begleitet. Die Idee kam von mir. Ich wollte mein Wissen auffrischen. Also jeden Abend vor dem Einschlafen eine Geschichte aus «Von Sisiphos bis Tantalos», «Von Daidalos bis Minotaurus», «Von Phaeton bis König Midas» und «Die Götter des Olymps». Die Buben waren so fasziniert, dass ich ihnen danach die Ilias und die Odyssee vorlesen musste. Jetzt kennen sie sich mit antiken Göttern, Helden und Ungeheuern besser aus als ich. Wenn mir ein Name entfallen ist, brauche ich sie bloss zu fragen. «Der dreiköpfige Hund, der die Tore zum Hades …?» – «Cerberus!» – «Stimmt!» Sie erinnern sich an jedes Detail, sie saugen die Geschichten auf wie Schwämme.
Am Anfang las ich meinen Söhnen vor. Heute kommen sie oft mit einem Buch zu mir, halten es mir unter die Nase und sagen: «Lies das!» Meistens ist es ein Ausschnitt aus «Peanuts» (Snoopy, Charly Brown und Co.), daraus ein spezieller Witz, den sie mir zeigen wollen. Neben mir stehend warten sie, bis ich fertiggelesen habe, und dann lachen wir zusammen. Geschichten verbinden, auch solche, die man gelesen hat.
Seit einiger Zeit klingen die Buchtitel japanisch: «Naruto», «Boruto», oder sie sind ganz in Kanji verfasst. Und was die japanische Buchserie «One Piece» angeht, ist die Geschichte noch lange nicht zu Ende erzählt, sie wird sich, wie vom Verlag angekündigt, auf 150 Bände erstrecken. Unser Büchergestell füllt sich rasant, seit sie japanische Comics lesen. So kommt es, dass wir öfter an einem Samstagmorgen vor dem Manga-Shop Schlange stehen. Wenn ich den Laden betrete, denke ich jedes Mal: Ich habe noch lange nicht ausgelernt. Von den Versen und Reimen über die Fabeln, Fantasy und Science-Fiction zu den Mangas, die sie mir nun nahebringen: Von Anfang an sind sie diejenigen, die mir die wahren Bestseller zeigen.
Kleiner Tipp: Bald ist Weihnachten.
Mireille Zindel
Mireille Zindel (*1973) hat in Zürich Germanistik und Romanistik studiert. Sie hat als Journalistin und Werbetexterin gearbeitet und 2008 ihren Debütroman «Irrgast» veröffentlicht. Kürzlich ist ihr vierter Roman «Die Zone» (lector books) erschienen. Im Mittelpunkt steht ein Apnoe-Taucher, der stets auf der Suche nach neuen extremen Erfahrungen ist. Mireille Zindel lebt mit ihrer Familie in Zürich.