Als Kind wollte Milo Rau Kriegsreporter werden. Stattdessen wurde er der umstrittenste, aber auch bekannteste Theaterregisseur der Schweiz. Als Intendant der Wiener Festwochen und des Theaters Gent lebt er in Belgien, Deutschland und Österreich. Ins Videogespräch mit dem kulturtipp wählt er sich aus dem Kölner Familienhaus. Rau bedient sich gern bei grossen Figuren wie Jesus oder Wilhelm Tell – und verknüpft sie mit politischen Realitäten. Er will die Wirklichkeit aber nicht nur abbilden, er will sie verändern.
Deshalb fokussiert zum Beispiel der Film «Das neue Evangelium» auf ein Kollektiv von Gastarbeitern und italienischen Kleinbauern, die Pelati ohne Ausbeutung herstellen. Rau beschreibt die «Bösen» in seinen Stücken, etwa die Glencore-Chefs in der Oper «Justice», als banal. «Wenn man in solchen Strukturen steckt, braucht es Mut und Fantasie, um diese zu ändern.» Leider gebe es viele, die bloss nichts falsch machen wollen. «Ich bin nicht wütend auf Leute, die ängstlich und schwach sind.
Ich finde es nur schade.» Raus provokative Art geht einigen zu weit. Etwa beim neuen Genter Stück «Medeas Kinder», in dem Kinder mitspielen. Dem Vorwurf, er reproduziere Gewalt und bediene Voyeurismen, widerspricht er. Die Kunst ermögliche einen neuen Blick aufs Thema Kindermord. Rau sagt: «Das Stück spielt in einem gemütlichen Haus. Irgendwann realisiert der Zuschauer, dass zu Hause der statistisch gefährlichste Ort für Kinder ist.»
Die helvetische Gemütsruhe geht ihm ab
Trotz künstlerischer Radikalität sieht Rau sich als Kollaborateur. «Die Hippievariante, aufs Land zu ziehen und sich abzukoppeln, ist ein Scheinausweg.» Um fair produzierte Pelati zu verkaufen, müsse man auch mit Supermärkten zusammenarbeiten, die schlechte Politik machen. Diesen Pragmatismus verdankt der St. Galler auch seiner Schweizer Prägung.
Die helvetische Gemütsruhe geht ihm aber ab. Immer wieder lässt Rau sich im Gespräch unterbrechen – von einem E-Mail, der Tochter, die im Nebenraum lacht, oder seiner Katze. Er sammelt sich und kehrt zur Frage zurück, ob er Apokalyptiker und Optimist gleichzeitig sei. «Ja, wahrscheinlich», sagt er nachdenklich. «Unsere liberale, demokratische Gesellschaft wird leider verschwinden.» Denn der Wohlstand basiere auf der Ausbeutung schwindender Ressourcen.
«Es wird etwas anderes kommen. Aber wir können daran arbeiten, dass das keine dunkle Zeit wird, sondern eine neue Art von Zusammenarbeit.» Dabei könne man von der Landlosenbewegung in Brasilien lernen, die seit fast 40 Jahren solidarische Landwirtschaft betreibt. Um sie geht es bei Raus «Antigone im Amazonas». Der griechische Mythos eigne sich gut, um von den indigenen Aktivisten zu erzählen, weil auch sie einen Kampf zwischen Kapitalismus und naturverbundener Tradition führten.
«Das Stück berührte die Leute schon in Finnland und Australien.» Jetzt ist er gespannt auf die Zürcher Premiere. «Ich glaube, es ist mein bisher bestes Stück.»
Antigone im Amazonas
Premiere: Sa, 27.4., 20.00
Schauspielhaus Zürich
Milo Raus Kulturtipps
Gedichtband
Mary Oliver: Sag mir, was hast du vor mit deinem wilden, kostbaren Leben (Diogenes 2023)
«Mary Oliver ist die erfolgreichste, meistgelesene US-amerikanische Dichterin. Zugänglich, konkret und doch weise und mystisch. Diogenes bringt ein Best-of auf Deutsch.»
Film
Josef Hader: Andrea lässt sich scheiden (im Kino) «Ich liebe sowohl Josef Hader wie Birgit Minichmayr. Ich lebe in Österreich und bin in der Provinz aufgewachsen – dieser Film bringt all das zusammen.»
Serie
Liebe und Anarchie (Netflix) «Eine anarchische Serie aus der Verlagsbranche – witzig, crazy und total tiefenentspannt, wie es sein muss.»