Helen lauschte. Beide Zimmertüren standen offen. Sie konnte nachts nicht schlafen ohne das helle Flurlicht, das schräg in ihr Zimmer fiel. Mama machte ihre Tür manchmal nachts zu. Dann schlich sich Helen aus dem Bett und öffnete sie wieder, ganz leise. War ihre Mutter einmal eingeschlafen, konnte man sie kaum aufwecken. Häufig schnaufte sie dabei laut, trotzdem fühlte Helen sich besser, wenn ihre Zimmertür offen stand.
Es war so still, meist konnte sie die Nachbarn durch die dünnen Wände hören, ihren Fernseher, das Radio, ihre Stimmen. Frau Hofstetter auf der anderen Seite schrie immer ihren Mann an. Ihre Mutter sagte, das sei, weil er nicht mehr gut höre. Er schrie nie zurück.
Helen stand auf. Auf dem Bettrand lagen ihre Kleider ausgebreitet wie die einer Papierpuppe. Neben dem Bett standen die neuen Pantoffeln, die sie mitbringen musste, und die kleine Tasche aus rotem Leder, die sie mit einem Fix-und-Foxi-Aufkleber verziert hatte. Er sass ein wenig schief.
Vor einem Jahr hätte Helen schon den Kindergarten besuchen sollen, zusammen mit ihrer Freundin Susanne, die damals an derselben Strasse wohnte. Doch Mama hatte sie zurückbehalten. Helen hatte sich das Wort gemerkt. Mama hatte sie zurückbehalten, bei sich behalten. Weil Papa nicht mehr da war und sie tagsüber nicht allein sein wollte. Aber vielleicht war es auch, weil sie jetzt morgens immer sehr lange schlief. Sie holte immer mehr Weinflaschen aus dem Keller und trank sie ganz allein aus. Früher hatte Papa ihr dabei geholfen. Doch seit Papa weg war, war alles anders. Mama war jetzt immer müde, lachte nicht mehr und tanzte nicht mehr. Sie nannte Helen nicht mehr «mein Mädchen». Sie kochte nicht mehr, bügelte nicht mehr, fegte den Küchenboden nicht mehr. Helen versuchte verzweifelt, die Handreichungen, die sie so oft beobachtet hatte, aus dem Gedächtnis nachzuahmen. Sie hatte Mama doch immer geholfen, sie war ihr durchs Haus gefolgt wie ein Hündchen, von oben nach unten, von einem Zimmer zum nächsten. Sie wusste genau, was Mama jeden Tag getan hatte: lüften, Betten machen, abstauben, staubsaugen … Aber wenn sie es allein versuchte, konnte sie es nicht.
Und dann sagte Papa, sie könnten das Haus nicht länger halten. Das war Mamas Beruf, das Haus zu halten. Das sagte sie doch immer. Wie sehr sie es liebte, das Haus zu halten, und dass es nichts gäbe, was sie lieber tun würde. Aber offenbar nur, wenn Papa auch in dem Haus war. Helen allein war nicht genug.
Statt ein Haus, das sie nicht halten konnten, hatten sie nun zwei Wohnungen, eine in der Siedlung und eine in der Nähe von Papas Arbeit. Das war kein guter Tausch, fand Helen. Papa hatte beim Umzug geholfen. Er hatte an den Türen geklingelt und sich den Nachbarinnen vorgestellt. Alle mochten ihn. Sie kannten ihn vom Fernsehen und waren ganz aufgeregt, ihn persönlich kennenzulernen. Auch deshalb ging Helen nicht gern in den Hof hinunter zum Spielen oder zu den anderen Kindern nach Hause. Wegen der Mütter. Ständig fragten sie nach ihrem Papa. Wie es ihm ginge und wann er wiederkäme. Vielleicht war das auch der Grund, warum Mama nur noch selten die Wohnung verliess.
Papa kam oft vorbei, aber immer nur kurz und nie dann, wenn er es versprochen hatte. Er hatte die Lampen in der Küche montiert und den Bücherschrank an die Wand geschoben. Er öffnete die Briefe von der Bank und vom Steueramt, er legte die Rechnungen in ordentlichen Stapeln auf den Küchentisch und half Mama, die Einzahlungsscheine auszufüllen. Manchmal liess er auch Geld auf dem Tisch liegen, zerknitterte Noten, die Mama mit der Handkante glatt strich, als wären es Briefe.
«Natürlich liebt er uns noch», sagte Mama. «Er braucht nur etwas Abstand. Das tut jeder Beziehung gut. Und dein Vater ist nun mal ein Freigeist.»
Jetzt hörte sie eine Tür schlagen, das Getrampel von Füssen im Hausflur, die laute Stimme von Frau Huber. «Dani, deine Turnsachen! Barbie, die Jacke!» Ihre Stimme war schrill. Wie ein Messer, das auf dem Teller abrutschte. Frau Huber hielt sich für etwas Besseres, sagte Mama immer.
Der Kindergarten begann später als die richtige Schule, wusste Helen. Aber wie viel später? Sie würde sich besser auch langsam bereit machen. Auf Sockenfüssen schlich sie zu Mamas Zimmer, doch sie ging nicht hinein. Sie blieb in der Tür stehen, mit sicherem Abstand zum Bett. Ihre Mutter hatte die Decke abgeworfen. Sie trug noch das Kleid vom Vorabend, das gelbe mit den dicken, weissen Blumen, das Helen so gern mochte. Jetzt war es ganz zerknittert.
«Mama, Mama!», rief sie vom Türrahmen aus. «Wach auf!» Ihre Mutter seufzte und drehte sich um, aber sie öffnete nicht die Augen. Ihr schönes Kleid hatte vorne einen grossen, dunklen Fleck. Schon gefiel es Helen nicht mehr. Sie drehte sich um und ging in ihr eigenes Zimmer zurück. Sie zog sich fertig an, wusch sich die Hände im Bad, fuhr sich mit der Bürste durch die Haare. Eigentlich müsste sie auch die Zähne putzen, aber das war ihr jetzt zu viel. Helen nahm die neue Kindergartentasche vom Stuhl und legte sich den Riemen quer über die Brust. Die Tasche war leer. Sie versuchte sich zu erinnern, was ihre Mutter gestern gesagt hatte. Musste sie etwas mitbringen? Etwas zu essen? Hatte Mama etwas für sie vorbereitet?
Sie öffnete den Kühlschrank. Die Auswahl war nicht gross. Den offenen Milchkarton konnte sie nicht gut einpacken. Sie öffnete alle Klappen und zog an allen Schubladen, bis sie etwas fand, das sie einstecken konnte. Dann schlüpfte sie in ihre Gummistiefel, die einzigen Schuhe, die sie allein anziehen konnte. Im Kindergarten würde sie lernen, ihre Schuhe zu binden. Das hatte Frank ihr erzählt, der es wiederum von den älteren Kindern wusste, die im Hof spielten. Frank war ein Jahr jünger als Helen, aber er wusste mehr als sie. Frank war ihr Freund.
Sie trat in den Flur hinaus und zog die Tür hinter sich zu. Einen eigenen Schlüssel hatte sie nicht. Aber ihre Mutter war ja zu Hause. Sie würde aufwachen und sich erinnern. Vielleicht sogar rechtzeitig, um sie nach dem Kindergarten abzuholen.
Helens Plan war ganz einfach: Sie würde im Treppenhaus warten, bis Frank sich auf den Weg machte, und ihm folgen.
Milena Moser
Milena Moser, 1963 in Zürich geboren, war bereits kurz nach ihrer Lehre als Buchhändlerin journalistisch tätig. Heute ist sie eine der erfolgreichsten Schriftstellerinnen der Schweiz und hat über 20 Bücher publiziert. 2015 wanderte sie nach Santa Fe, New Mexico, aus und lebt heute in San Francisco. Von ihrem Leben in den USA handelten auch ihre letzten Bücher «Das Glück sieht immer anders aus» (2015), «Hinter diesen blauen Bergen» (2017) und «Land der Söhne» (2018). «Mehr als ein Leben» erscheint am Di, 22.2., bei Kein & Aber. Buchpremiere feiert Milena Moser am So, 6.3., im Kaufleuten Zürich.